Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Autoren: Dror Mishani
Vom Netzwerk:
trockenen und bitteren Geschmack im Mund, den zu wenig Schlaf nach einem langen Arbeitstag, an dem er fast drei Schachteln Time geraucht hatte, erzeugt. Der Bote in der grünen Uniform von »zer4u« hatte seinen Helm nicht abgesetzt. Er versteckte sich hinter einem großen Blumenstrauß aus Rosa-, Weiß- und Lilatönen, Lilien, Glockenblumen, Gerbera und viele grüne Zweige.
    Avraham zog die kleine Grußkarte heraus und las:

    Für unseren lieben Avi,
    herzliche Glückwünsche zu Deinem 38. Geburtstag.
    Wir wünschen Dir Gesundheit, Glück und weiterhin Erfolg auf Deinem Lebensweg. Was immer Du anpackst, es möge Dir gelingen.
    Wir lieben Dich,
    Deine Eltern

    Er rief nicht an, um sich für den Strauß zu bedanken, den er zunächst einmal nur auf dem Küchentisch ablegte. Zu grelles Tageslicht fiel über den Balkon herein. Er stellte einen kleinen, schlanken Stieltopf mit Wasser und feingemahlenem türkischen Kaffee für zwei Tassen auf die Herdplatte und ging ins Bad, um den Mundgeruch loszuwerden. Der träge stampfende Motor eines Möbelwagens, der vor dem Haus stand, ließ den Fußboden erzittern. All das unterschied sich so sehr von der Stille, in der aufzuwachen er gewohnt war. In aller Regel stand er, auch ohne Wecker, vor sechs auf, putzte sich die Zähne und wanderte dabei durch die Wohnung, in die sich fahles Licht stahl, setzte in der Küche Wasser auf und schlurfte ins Wohnzimmer, öffnete eine der Sonnenblenden und putzte weiter, den Blick auf die noch im Dunkeln liegende Straße gerichtet, auf der so gut wie kein Verkehr herrschte und nur zu langen Kolonnen erstarrte Autos auf beiden Seiten parkten. Manchmal war ein Passant auf der Straße unterwegs, der früh zur Arbeit musste, und zuweilen war sogar das Zwitschern eines verirrten Vogels zu hören.
    Doch vielleicht kam der Lärm gar nicht von der Straße, vielleicht kam er aus ihm selbst? Er war mit einer inneren Unruhe aufgewacht, als hätte ein Lastwagen den ganzen gestrigen Tag in ihm ausgekippt, in dem Augenblick, in dem er das elektronische Schellen der Gegensprechanlage hörte. Alle Bilder, alle Gespräche. Die Ungewissheit, Hannah Sharabi hinter der staubigen Glastür, das ununterbrochene Klingeln seines Mobiltelefons, die Anrufe auf dem Revier, sein Gefühl, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten, Igor Kintjew, die Nachbarn, die ihn von den Balkonen aus beobachteten, die auf die Straße des Gewerkschaftsbundes hinausgingen, seine Fahrt durch die nächtlichen Straßen der Stadt, allein, ohne Ziel.

    Auch am gestrigen Tag hatte er schon beim Aufwachen an Hannah Sharabi gedacht. Da war es zehn vor fünf. Er kontrollierte sein Handy und sah, dass im Laufe der Nacht kein Anruf eingegangen war. Schwer zu sagen, ob das ein gutes Zeichen war.
    Er verzichtete auf seinen morgendlichen Fußmarsch und fuhr mit dem Wagen zum Revier, um den Tag über mobil zu sein, falls es notwendig wäre. Noch vor halb acht betrat er ein beinahe verwaistes Revier. Der wachhabende Kollege sagte, während der Nacht sei keinerlei Hinweis auf den vermissten Jungen eingegangen und es habe ihm auch niemand aufgetragen, am Morgen die Mutter anzurufen, um zu klären, ob ihr Sohn wohlbehalten wieder nach Hause gekommen war.
    Die zwei Stunden danach waren schrecklich. Nichts passierte. Er verschickte ein paar E-Mails, füllte ein Formular mit persönlichen Angaben aus, das er in der Personalstelle wegen der Reise nach Brüssel einreichen musste, las die Schlagzeilen auf den Internetseiten von Haaretz und ynet und blätterte in Kintjews Akte, um sich auf die weitere Ermittlung vorzubereiten. Das zu einem kleinen Quadrat gefaltete Blatt, auf dem er am vorigen Abend während der Unterredung mit der Mutter kurze Sätze notiert hatte, lag auf dem Tisch, genau dort, wo er es vergessen hatte.
    In den Polizeiprotokollen aus der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag war nicht eine Meldung, die mit Ofer Sharabi in Verbindung gestanden hätte. Ein Brand in einer Versicherungsagentur im Erdgeschoss eines Wohnhauses in der Eilat-Straße. Die Feuerwehrleute hatten den Verdacht geäußert, es könnte sich um Brandstiftung gehandelt haben. In der Givat-HaTachmoshet, nur wenige Meter von seiner eigenen Wohnung entfernt, war ein Motorroller gestohlen worden.
    Er könnte sie anrufen, um die Ungewissheit loszuwerden, hatte jedoch das dumpfe Gefühl, das Schicksal besser nicht herauszufordern. Solange sie nicht anrief, hieß das vielleicht, dass alles in Ordnung war, und diese Ordnung durfte nicht durch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher