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Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt
Autoren: Paola Zannoner
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hat sich herumgesprochen und die wollten dir an den Kragen.«
    Leo war überrascht: Wen meinte sein Vater mit »die«? Wer wollte ihm an den Kragen?
    »Das liegt doch auf der Hand: Die wollten einfach nicht, dass du es schaffst.«
    Plötzlich war Leo erleichtert: Vielleicht hatte sein Vater recht, es gab ein Komplott und er war das Opfer. »Aber wer, Papa?«
    Enrico zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, wie viele dich beneiden? Vielleicht sogar jemand aus deiner Mannschaft, da geht es um so viel.«
    Auch wenn Leo wusste, dass das nicht stimmte, freute er sich, dass sein Vater ihn verteidigte, ein Komplott gegen ihn erfand, um ihm recht zu geben. Er glaubte lieber an Intrigen als an die Wahrheit, er war überzeugt davon, dass die Welt voller Menschen war, die solche üblen Tricks anzettelten, die ihre eigenen Interessen zulasten anderer durchsetzten, die nur daran dachten, wie sie dir eins auswischen konnten. Ohne Rücksicht auf Verluste. Sein Vater hatte diese Meinung verinnerlicht, weil er Facharbeiter in einem Chemiekonzern war, wo skrupellose Manager aus Profitgier die Daten für die Umweltbehörde fälschten, um den Eindruck zu erwecken, ihre Fabrik sei ein Wohlfühlbiotop, bei dem nur Eukalyptusessenz aus den Schornsteinen kam.
    Leo spielte mit dem Schlüssel. Inzwischen war seine Wut verraucht, ausradiert, genau wie der Nebel, der sich gleich nach Spielende aufgelöst hatte, als wollte er ihn verspotten. Es wurde immer kälter, der Roller triefte vor Nässe. Enrico sagte: »Ich fahre dir hinterher.«
    Der übliche Satz, wie der Satz über das Wetter, der die übliche Antwort nach sich zog: »Nein, ich nehme die Abkürzung. Das geht schneller.«
    Leo setzte den Helm auf und während er den Riemen unter dem Kinn schloss, legte ihm sein Vater die Hand auf die Schulter. »Nimm es nicht so schwer, es wird eine neue Chance geben.«
    Aber Leo war es gar nicht, der es schwergenommen hatte. Als er seinen Vater ein wenig gebückt zum Auto gehen sah, hatte er das Gefühl, dass es ihn viel mehr getroffen hatte.

Der Lauf
    Viola atmete tief ein und stieß die Luft dann auf einmal wieder aus. Der Atem wurde zu Dampf und blieb einen Augenblick über ihrem Kopf stehen, wie eine Art weiße Haube. Der Starter hatte den Arm nach oben gestreckt, bereit, das Startsignal zu geben. Viola senkte den Kopf, ein Knie berührte den harten Untergrund der Laufbahn.
    Dieser feuchtkalte Tag war nicht gerade ideal für einen Hürdensprint. Der Nebel war zwar nicht dicht, ließ aber trotzdem alle Konturen verschwimmen, sodass Viola sich ganz auf ihren Instinkt und den hundertfach geübten Bewegungsablauf verlassen musste, wie ein Pilot beim Nachtflug auf die Bordinstrumente. Sie hätte die Strecke auch mit verbundenen Augen laufen können, der Schrittrhythmus, der Absprung vor der Hürde und die Atemtechnik waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen.
    Vor dem Start hatte sie sich ihre Gegnerinnen angesehen. Ihre Nervosität, ihre angespannten Gesichter und die zusammengekniffenen Augen, mit denen eine von ihnen ihren Gruß erwidert hatte, gaben ihr Sicherheit und Zuversicht. Als sie ihre Startposition einnahm, hatte sie im ganzen Körper eine große Energie gespürt. Das war ihr Lauf. Sie würde als Erste durchs Ziel gehen, da war sie sicher.
    Beim Startschuss katapultierte sich Viola nach vorn, einen Arm angewinkelt nach oben gestreckt, den anderen nach hinten gebeugt, um den Oberkörper anzuheben, die Beine schienen beim Abstoßen aus den Blöcken regelrecht zu explodieren. Ihre Gedanken waren nur auf das Schrittezählen gerichtet, der Atem sammelte sich in ihren Lungen, um dann mit einem kräftigen Stoß wieder aus dem Mund zu fließen, wie bei einem Dampfkochtopf. Dann flog sie über die erste Hürde. Ein kurzer Blick zur Seite, sie war Dritte, es lief gut, sie meinte Sirios Stimme zu hören: »Genau richtig, lauf ruhig weiter, lass sie sich an den ersten Hürden auspowern.« Die eiskalte Luft drang ihr in die Nase, s ie schien dort zu gefrieren, aber sobald sie die Keh le hinunterglitt, b egann sie zu kochen, glühte über dem Zwerchfell auf, um dann wie bei einem Feuer speienden Drachen stoßweise wieder herausgepresst zu werden. Nach der fünften Hürde forcierte Viola das Tempo, die erhöhte Frequenz war kaum wahrzunehmen, aber der Absprung war dynamischer, der Körper straffte sich, die Arme blieben nah am Körper und vor der sechsten Hürde war sie bereits Zweite. Jetzt ging ihr Blick nach vorne, der Brustkorb weitete sich, sie
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