Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausgelöscht

Ausgelöscht

Titel: Ausgelöscht
Autoren: K Ablow
Vom Netzwerk:
dass er vermutlich nichts weiter als die ersten Anzeichen der Leichenstarre sah. Doch das konnte das komische Gefühl in seinem Magen nicht vertreiben. Denn obgleich er ein ausgebildeter Arzt war, obgleich er lange, bevor er sich der Psychiatrie zuwandte, Physik, Epidemiologie und Biochemie studiert hatte, hatte der Wissenschaftler in ihm nie vermocht, den Dichter in ihm zum Verstummen zu bringen. Und er konnte nicht leugnen, dass er die bestimmte Ahnung hatte, dass noch ein schönes Stück Arbeit vor ihm lag, bevor John Snow seine letzte Ruhe finden konnte. Vielleicht war es das, was North Anderson zuvor im Büro gefühlt hatte – dass das letzte Kapitel von Snows Geschichte noch nicht geschrieben war.
    »Gefällt Ihnen die Musik, oder möchten Sie etwas anderes hören?«, erkundigte sich Wolfe.
    Clevenger und Coady sahen einander an. Coady zuckte mit den Achseln.
    »Ich denke, wir können es ertragen«, erklärte Clevenger.
    »Bitte nehmen Sie zur Kenntnis«, sagte Wolfe, »dass in der Notaufnahme nichts unversucht gelassen wurde, um Dr. Snow wieder zu beleben.« Er sah die beiden Männer an, um sich zu vergewissern, dass sie sich seine Warnung zu Herzen nahmen. Dann schlug er das Laken zurück.
    »Himmelherrgott«, entfuhr es Coady.
    Ein Loch von der Größe einer Männerfaust – Jet Hellers Faust – klaffte in Snows Brust. Die linke Herzkammer, angeschwollen und blau-schwarz von Hellers Pumpen, quoll aus dem geöffneten Brustkorb. Die Anatomie war so entstellt, die Haut so überzogen von Prellungen, dass die Pathologie, die mit Snows Todesursache assoziiert war – eine Einschusswunde oberhalb der ersten Rippe –, fast nicht mehr zu erkennen war.
    »Die Ärzte haben versucht, ihn zu retten, indem sie in einen Einschnitt in Dr. Snows Brust gegriffen und sein Herz von Hand gepumpt haben«, sagte Wolfe. »Wie Sie sehen können, wurde dabei Gewebe gespannt und zerrissen. Ich bin mir sicher, was die Eintrittstelle der Kugel angeht: knapp oberhalb der ersten Rippe.« Er benutzte einen ausziehbaren Zeigestab, um auf die Stelle zu deuten. »Ich bin mir ebenfalls sicher, dass die Kugel die rechte Herzkammer durchschlagen hat und im dritten Brustwirbel stecken geblieben ist. Doch um mit einiger Bestimmtheit sagen zu können, ob die Wunde selbst beigebracht ist, müsste ich den genauen Einschusswinkel der Kugel kennen. Das würde mir einen Hinweis darauf geben, ob ein Angreifer die Waffe auf Dr. Snow gerichtet und sie parallel zum Boden gehalten hat oder ob Dr. Snow sich, den Lauf leicht nach oben gerichtet, selbst erschossen hat.«
    »Und warum können Sie das nicht herausfinden?«, wollte Coady wissen. »Den Winkel, meine ich.«
    »Weil die Haltung des Opfers eine zusätzliche Variable ist. Und die kenne ich nicht. Dr. Snow könnte aufrecht gestanden haben oder nach links oder rechts gelehnt. Er könnte auf den Knien um sein Leben gefleht haben. Ohne zu wissen, in welcher Haltung er sich befand, als ihn der Schuss traf, kann ich keine Rückschlüsse aus seinen Verletzungen ziehen und eine eindeutige Schussbahn für die Kugel errechnen.«
    Coady schüttelte den Kopf. »Sie vergessen wohl Charles Stuart? Damals haben Sie gesagt, es bestehe eine 99,9-prozentige Gewissheit, dass er selbst auf sich geschossen hat. Was ist diesmal anders?«
    Coady bezog sich auf den berüchtigten Fall von Charles Stuart. 1989 hatte Stuart seinen Wagen in einem gefährlichen Viertel von Boston geparkt und seine schwangere Frau Carol ermordet, bevor er sich selbst in den Bauch geschossen hatte. Später behauptete er, ein Schwarzer habe sie auf der Heimfahrt von einem Schwangerschaftskurs im Krankenhaus überfallen und dann das Feuer auf sie eröffnet.
    »Erstens war bekannt, dass Stuart zum Zeitpunkt des ›Überfalls‹ hinter dem Lenkrad gesessen hatte. Die Kugel steckte in der Rückenlehne des Sitzes. Zweitens gibt es hier umfangreiche iatrogene Verletzungen.«
    »Etwas Zurückhaltung bei der Silbenzahl, bitte«, feixte Coady. »Ich hab nur ein paar Semester an der örtlichen Uni abgerissen.« An der angesehenen University of Massachusetts, summa cum laude, Mitglied der Phi-Beta-Kappa-Verbindung, Abschlüsse in Strafrecht und Soziologie – aber das behielt Coady lieber für sich. Er konnte es sich nicht leisten, dass die Jungs auf dem Revier dachten, er sei was Besseres als sie.
    »
Iatrogen
«, meldete Clevenger sich zu Wort. »Durch ärztliche Einwirkung entstanden.« Er deutete mit einem Nicken auf Snows angeschwollene linke
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher