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Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Titel: Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
Autoren: Andreas Scheffler
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an.
    Langsam werde ich sentimental. Nie bin ich in Berlin so freundlich begrüßt worden. Nie hat man sich so um mich bemüht. Wir stoßen an. Der Revierförster klingelt. Wir stoßen an. Der Bezirksschornsteinfeger klopft. Wir stoßen an. Eine Abordnung der Landfrauen steht vor der Tür. Sabine macht einen Tee. Wir anderen stoßen an. Ich lasse die Haustür einfach auf. Nach kurzer Zeit stehen der Postbote und die Freiwillige Feuerwehr im Wohnzimmer. Ich falle in einen Getränkekarton und schlafe auf der Stelle ein. Die Anwesenden, so sagt man mir später, hätten sich davon nicht beirren lassen. – So ist das Leben auf dem Dorf. Ruhig, gelassen, ohne Stress, geruhsam und gesund. Steige hoch, du roter Adler, hoch über Sumpf und Sand. Prost.

Besinnliches zum neuen Jahr
    Wenn man aufs Dorf zieht, kann es mitunter eine ganze Weile dauern, bis sich ein Nachbar traut, einen auf der Straße anzusprechen. Frau Trautmann, die etwa zehn Häuser weiter wohnt, hat dafür etwas mehr als ein Jahr gebraucht. Sie hat zufällig auf der Straße meine Frau getroffen und uns zuerst einmal gelobt. Was wir in der kurzen Zeit aus dem Grundstück gemacht hätten, toll! Und wie schön unser Haus geworden wäre. Und auch die Farbe würde ihr gefallen, auch wenn einige im Dorf das anders sehen würden. Unser Haus ist das einzige im Ort mit rotem Silikatputz. Sabine erzählt ein wenig von den Bauarbeiten, und dann kommt Frau Trautmanns erste und offenbar wichtigste Frage: »Und – hat Ihr Mann denn auch Arbeit?« Sabine gerät ins Schlingern: »Nun ja. Er schreibt freiberuflich Geschichten und liest die öffentlich vor. Ab und zu schreibt er auch für die Zeitung.« Mehr will Frau Trautmann erstaunlicherweise nicht wissen. Abschließend sagt sie: »Wenn ich mal einen Spruch für einen Geburtstag oder so brauche, komme ich auf Sie zu.«
    Einen Spruch. Für einen Geburtstag. Oder so. Wahrscheinlich noch als unentgeltliche Nachbarschaftshilfe. Weil unsereins mal ganz locker einen Spruch aus dem Ärmel schüttelt.
    Alles Gute, lieber Walter,
fünfundsiebzig ist kein Alter.
Paul war erst mit neunzig dran,
also streng dich etwas an.
    So was wird da in etwa erwartet. Im Grunde herzlich, aber doch mit einem neckischen Unterton.
    Hans, jetzt bist du fünfzig Jahre,
hast schon bannig graue Haare,
manche haben keine mehr,
sei zufrieden, bitte sehr.
    Ist vielleicht ne Geschäftsidee. Ein individueller Vierzeiler – 20 Euro. Ich verwerfe die Idee sofort und auf der Stelle. So was kann und macht seit Menschengedenken fast jeder. Außerdem habe ich da keine Lust zu.
    Kurz nach Weihnachten sitzt Sabine am Küchentisch, vor sich einen Haufen Neujahrskarten und Briefumschläge. Ich will schnell flüchten, da ruft sie: »Warte mal. Ich schreibe gerade die Karten für die Nachbarn. Hilf mir mal.« – »Wieso ich?«
    »Ja wer denn sonst? Außerdem bist du Autor.«
    Das bin ich wohl. Aber doch nicht für so einen abgedroschenen Kram. »Schreib, was wir immer schreiben: Wir wünschen euch ein hm hm hm neues Jahr. Und für das hm hm hm setzt du wahlweise ›gutes‹, ›gesundes‹, ›fröhliches‹, ›spannendes‹, ›lustiges‹, ›aufregendes‹, ›entspanntes‹, ›ruhiges‹, ›friedliches‹, ›harmonisches‹ oder von mir aus auch finanziell erfolgreiches‹ ein.«
    »Finanziell erfolgreich?«
    »Ja«, sage ich, »das ist doch mal was Individuelles, nicht immer dieser Einheitskram. Du könntest Danckerts zum Beispiel schreiben: Wir wünschen euch ein finanziell erfolgreiches neues Jahr. Mögen die Gerüchte über den Bankrott eures Lampenladens nicht der Wahrheit entsprechen.«
    »Du spinnst doch.«
    »Gar nicht. Und Irene wünschst du ein spannendes Jahr.«
    »Irene hat MS.«
    »Ja eben. Ist doch spannend, ob sie es noch packt.«
    Sabine lehnt sich im Stuhl zurück. »Die Spannung hat sie umsonst.«
    »Dann wünsch ihr halt ein gesundes.«
    »Das ist zynisch. Du weißt doch, wie es um sie steht.«
    »Soll ich ihr etwa einen schnellen und schmerzlosen Tod wünschen? Nee. Hast ja schon recht. Wünsch ihr einfach ein gutes. Das ist am neutralsten. Oder, und das gilt auch für die anderen, mach doch selbst einen kleinen Vier- oder Sechszeiler. Das kommt immer an.«
    »Kann ich nicht. Deshalb hab ich dich ja um Hilfe gebeten.«
    »Oh nee. Da hab ich nun gar keine Lust zu. Du kannst auch ein Zitat reinschreiben. Da weiß der Adressat gleich, dass man sich Gedanken gemacht hat. Ich hab doch meine Zitatekiste.« Nach fünf Minuten bin ich zurück.
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