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Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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auf weiß ausgerechnet sein wird (was durchaus anzunehmen ist, denn es wäre ekelhaft und sinnlos, vorauszusetzen, daß manche Naturgesetze für den Menschen unbegreiflich bleiben werden), dann wird es selbstverständlich dieses sogenannte Wollen nicht mehr geben. Denn wenn das Begehren einmal mit der Vernunft vollständig zusammengefallen ist, so werden wir dann eben urteilen, nicht aber wollen, aus dem einfachen Grunde, weil man doch beispielsweise bei vollem Bewußtsein nichts Sinnloses wollen und somit wissentlich gegen seine Vernunft handeln und Unvorteilhaftes wünschen kann … Da man aber alle Urteile und auch alles Begehren tatsächlich einmal berechnet haben wird, denn irgendeinmal wird man die Gesetze unseres sogenannten freien Willens entdecken, wird es folglich einmal eben zu so einer Art Tabelle kommen, im Ernst, so daß wir wirklich nach dieser Tabelle wollen werden. Denn rechnet man mir zum Beispiel irgendwann vor und beweist, daß, wenn ich jemandem die Zunge herausgestreckt habe, ich dies einzig und allein deshalb tat, weil ich es nicht unterlassen konnte, und daß ich sie mit genau derselben Grimasse habe herausstrecken müssen, dann möchte ich bloß wissen, was da noch Freies in mir übrigbleibt, besonders, wenn ich gebildet bin und ein Studium hinter mir habe? Dann kann ich mein ganzes Leben auf dreißig Jahre vorausberechnen; mit einem Wort, wenn es einmal dazu kommt, wird uns nichts mehr zu tun übrigbleiben: man wird alles begreifen müssen. Und überhaupt müssen wir uns unermüdlich vorsagen, daß in einem bestimmten Augenblick und unter gewissen Umständen die Natur sich über uns hinwegsetzt; man muß sie nehmen, wie sie ist, nicht aber so, wie wir sie uns zurechtphantasieren, und wenn wir tatsächlich auf die Tabelle, den Kalender, nun, und … meinetwegen auch auf die Retorte zustreben, so muß man – was will man schon machen – auch die Retorte akzeptieren! Andernfalls akzeptiert sie sich selbst über Ihren Kopf hinweg …«
    Jawohl, aber hier sehe ich einen Haken! Meine Herrschaften, Sie werden verzeihen, daß ich mich hinreißen lasse und zu philosophieren anfange; das sind die vierzig Jahre Kellerloch! Gestatten Sie mir zu phantasieren. Mit Verlaub: Verstand, meine Herrschaften, ist eine gute Sache, das wird niemand bestreiten. Aber Verstand bleibt Verstand und genügt lediglich der Verstandesfähigkeit des Menschen. Das Wollen dagegen ist die Offenbarung des ganzen Lebens, das heißt des ganzen menschlichen Lebens, sowohl Verstand als auch alles andere Jucken eingeschlossen. Und wenn sich auch unser Leben in dieser Offenbarung oftmals als rechte Nichtswürdigkeit erweist, ist es doch immerhin Leben und nicht nur Quadratwurzelziehen. Denn ganz selbstverständlich will ich leben, um meine gesamte Lebensfähigkeit zu befriedigen, nicht aber um zum Beispiel meiner Verstandesfähigkeit Genüge zu tun, das heißt irgendeinem zwanzigsten Teil meiner gesamten Lebensfähigkeit. Was weiß der Verstand? Der Verstand weiß nur das, was er schon erfahren hat (manches wird er unter Umständen nie erfahren: das ist zwar kein Trost, aber warum sollte es nicht einmal ausgesprochen werden?), die menschliche Natur aber wirkt stets als Ganzes, mit allem, was in ihr ist, bewußt und unbewußt, und lügt sie auch, so lebt sie doch. Ich vermute, meine Herrschaften, Sie schauen mitleidig auf mich herab. Sie wiederholen mir von neuem, daß es für einen gebildeten und entwickelten Menschen, kurz, für den künftigen Menschen, unmöglich sein werde, wissentlich etwas für ihn Unvorteilhaftes zu wünschen, daß dies Mathematik sei. Ich stimme mit Ihnen vollkommen überein, das ist wirklich Mathematik. Trotzdem aber sage ich Ihnen zum hundertsten Male: diesen Fall gibt es, einen einzigen Fall, in dem sich der Mensch absichtlich, wissentlich Schädliches, Dummes, ja sogar das Allerdümmste wünscht, und zwar: um das Recht zu haben , sich sogar das Dümmste wünschen zu können und nicht gebunden zu sein durch die Pflicht, sich nur Kluges wünschen zu müssen. Gerade dieses Allerdümmste, gerade diese eigene Laune kann ja, meine Herrschaften, in der Tat für unsereinen das Vorteilhafteste von allem sein, was es auf Erden gibt, zumal in gewissen Fällen. Insbesondere kann es sogar vorteilhafter sein als alle Vorteile, selbst dann, wenn es uns offensichtlich Schaden bringt und den allergesündesten Schlüssen unseres Verstandes über unsere Vorteile widerspricht – denn es erhält uns jedenfalls das
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