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Auf Amerika

Auf Amerika

Titel: Auf Amerika
Autoren: B Schroeder
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bündig und ohne lange Reden und Umschweife die Dinge beim Namen nannte.
    Es war, so viel wusste man, gleich nach dem ersten Weltkrieg, als der Veit, ein fünfzehnjähriger Bub, vor dem damaligen Wirt stand und gefragt hat, ob er keinen Knecht braucht. Weil der Wirt gerade beim Franzosen zwei Söhne in dem vermaledeiten Krieg verloren hatte, kam ihm der Veit gerade recht. Wo der herkam und warum, das hat den Wirt nicht weiter interessiert. Der war nun mal da, arbeitete trotz seiner Jugend wie ein Großer, verstand was von der Landwirtschaft und vom Schlachten, fragte nicht viel und redete und verlangte fast nichts, was auch der damaligen Wirtin, die eine noch größere Hexe gewesen sein soll wie die spätere Wirtin, gerade recht war. Und doch wurde immer wieder über die eventuelle Herkunft des Wirtsknechts viel spekuliert, zumal er selbst nichts erzählte, auf Fragen immer nur lächelte und schwieg, woran sich die Bauern gewöhnt hatten, nicht aber Leute wie mein Vater. Der Veit tat einfach so wie einer, der keine Erinnerung mehr hat.

10
    Unser Dorf hat 365 Einwohner, für jeden Tag einen, sagt mein Vater. Darum denke ich, dass an jedem Tag des Jahres einer aus dem Dorf Geburtstag hat, so wie ich am 6. Juni, mein Vater am 13. April und meine Mutter am 16. Oktober und der Benno am 3. Mai und die Rosa am 21. August. Bei den meisten Leuten weiß man nicht, an welchem Tag sie geboren sind, weil hier alle katholisch sind und nicht den Geburtstag, sondern den Namenstag feiern. Der Veit hat am 15. Juni Namenstag, dem Tag des Heiligen Veit, manchmal auch Vitus genannt, den sie, wie der Pfarrer erzählt, in die Löwengrube geworfen haben, weil er dem Christentum nicht abschwören wollte. Die Löwen fraßen aber den Heiligen Veit nicht, sondern legten sich neben ihn und leckten ihm die Füße ab. Dann steckten ihn die Heiden in einen großen Topf mit heißem Öl, doch daraus befreiten ihn die Engel, und darum war er dann heilig. Er ist, sagt der Pfarrer, der Schutzheilige der Gastwirte und Bierbrauer. Das gefällt dem Veit. Das mit den Löwen und dem Öl glaubt er nicht, weil er nichts von dem glaubt, was der Pfarrer sagt. Das ist alles gelogen, sagt er, aber der Pfarrer darf ja lügen, weil er nicht beichten muss. Wenn die Pfarrer alle der Reihe nach beichten müssten, mein Lieber, da wäre was los! Er lacht.
    Ich hab am 6. Juni Geburtstag, und du?
    Ich auch.
    Nein!?
    Doch.
    Das kann ja nicht sein. Ich sage ihm, dass doch jeder in Hausen an einem anderen Tag Geburtstag hat.
    So ein Schmarren, wie soll denn das gehen? Was wäre denn da in der Stadt drin, wo Tausende von Leuten sind? Da müsste ja das Jahr Tausende von Tagen haben. Und schau doch beim Messmer, da haben sie Zwillingsbuben. Die haben am selben Tag Geburtstag.
    Vom Veit lerne ich oft mehr als vom Lehrer Geißreiter. Und was der Veit sagt, das glaube ich, nicht nur, weil er am selben Tag Geburtstag hat wie ich. Der Lehrer lügt oft genauso wie der Herr Hochwürden. Mein Vater lügt auch. Und er beichtet nicht. Da kommt er in die Hölle, und das geschieht ihm recht. Ich lüge meistens nicht, nur manchmal, weil ich ja protestantisch bin und nicht beichten muss. Das ist das einzige Gute am Protestantischsein. Ein paar Jahre später, als ich konfirmiert werden soll, kommt heraus, dass ich nicht einmal protestantisch bin. Im Krieg, sagt mein Vater, da war keine Zeit, dich taufen zu lassen.
    Die Lammermutter hat also recht, wenn sie sagt, dass ich ein Heidenkind bin.

11
    In der Wirtschaft, wo ja seine Stube, sein Wohnzimmer, sein Zuhause war, saß der Veit jeden Abend immer am selben Platz, am Kopfende des Bauerntisches mit dem Rücken zur Theke, und aß und trank, und es fragte ihn keiner der Bauern mehr nach seiner Herkunft. Der war halt einmal da und aus. Nur mein Vater, der sich lächerlicherweise einen Wahrheitsfanatiker nannte, gab sich nicht so einfach zufrieden. Als er den Veit ausfragen wollte, selbstverständlich voraussetzend, er sei die Autorität, der sich auch der Veit im Bezug auf die Auskunft über seine Vergangenheit nicht entziehen könne, antwortete der mit einem bescheidenen Anflug von Verachtung für meinen Vater, aber auch aus tiefster Überzeugung und Erkenntnis, dass doch nicht ein jeder wissen müsse, wo einer herkomme, und dass er im übrigen alles vergessen habe, weil er ja nicht so gut mit dem Hirn anschieben könne wie er, der Seiler. Und ob es ihm, dem Seiler, noch nicht aufgefallen sei, dass er, der Veit, ihn, den Seiler, auch noch nie
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