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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel
Autoren: Herta Mueller
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war.

Ich bin noch immer das Klavier
    Ein ganzes Jahr blieb ich Kistennagler. Ich konnte zwölf Nägelchen auf einmal zwischen die Lippen pressen und gleichzeitig zwölf durch die Finger schnippen. Ich konnte so schnell nageln wie atmen. Der Meister sagte: Du bist begabt, weil du so flache Hände hast.
    Es waren aber nicht meine Hände, sondern der flache Atem der russischen Norm. 1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot verwandelte sich in 1 Nagelkopf = 1 Gramm Brot. Ich hatte die taube Mitzi, den Peter Schiel, die Irma Pfeifer, die Heidrun Gast, die Corina Marcu im Kopf, die nackt in der Erde lagen. Für den Meister waren es Butterkisten und Auberginenkisten. Für mich kleine Särge aus frischem Fichtenholz. Mir mussten die Nägel durch die Finger fliegen, damit es gelingt. Ich brachte es auf 800 Nägel in der Stunde, das konnte mir keiner nachmachen. Jedes Nägelchen hatte seinen harten Kopf, und bei jedem Nageln war die Aufsicht des Hungerengels dabei.
    Im zweiten Jahr schrieb ich mich im Abendlyzeum zu einem Betonierkurs ein. Tagsüber war ich Betonfachmann auf einer Baustelle an der Utscha. Dort habe ich meinen ersten Plan für ein rundes Haus auf Fließpapier gezeichnet. Sogar die Fenster waren rund, alles Eckige glich einem Viehwaggon. Bei jedem Strich habe ich an Titi, den Sohn des Bauleiters, gedacht.
    Im Spätsommer kam Titi einmal mit mir in den Erlenpark. Am Parkeingang stand eine alte Bäuerin mit einem KorbWalderdbeeren, feurigrot und klein wie Zungenspitzen. Und jede hatte an ihrem grünen Kragen einen Stiel wie feinster Draht. Hie und da hing auch noch ein dreifingrig gezacktes Blättchen dran. Sie gab mir eine zum Kosten. Ich kaufte für Titi und mich zwei große Stanitzel. Wir spazierten um den geschnitzten Pavillon. Dann lockte ich ihn am Wasserlauf entlang immer weiter durchs Gesträuch bis hinter den Kurzgrashügel. Als wir die Erdbeeren gegessen hatten, zerknüllte Titi sein Stanitzel und wollte es wegwerfen. Ich sagte: Gib es mir. Er streckte mir die Hand hin, ich fasste sie an und ließ sie nicht mehr los. Mit einem kalten Blick sagte er: He. Das war mit Lachen und Reden nicht mehr wegzuwischen.
    Der Herbst war kurz und färbte schnell sein Laub. Ich mied den Erlenpark.
    Im zweiten Winter blieb der Schnee schon im November liegen. Die kleine Stadt war eingepackt im Watteanzug. Alle Männer hatten Frauen. Alle Frauen hatten Kinder. Alle Kinder hatten Schlitten. Alle waren dick und heimatsatt. In engen, dunklen Mänteln liefen sie durchs Weiße. Mein Mantel war hell und angeschmutzt und viel zu groß. Auch heimatsatt, es war immer noch der abgetragene Mantel von meinem Onkel Edwin. Den Passanten schaukelten die Atemfetzen aus dem Mund und verrieten: Alle Heimatsatten machen hier ihr Leben, aber jedem fliegt es davon. Alle schauen ihm nach, allen schillern die Augen wie Broschen aus Achat, Smaragd oder Bernstein. Auch auf sie wartet eines Tages früh oder bald oder spät Eintropfenzuvielglück.
    Ich hatte Heimweh nach den mageren Wintern. Mit mir lief der Hungerengel herum, und er denkt nicht. Er führtemich in die gebogene Straße. Vom anderen Ende kam ein Mann. Er hatte keinen Mantel, sondern eine karierte Decke mit Fransen umgehängt. Er hatte keine Frau, sondern ein Handwägelchen. In dem Handwägelchen saß kein Kind, sondern ein schwarzer Hund mit weißem Kopf. Der Hundekopf nickte locker im Takt. Als die karierte Decke näher kam, sah ich auf der rechten Brust des Mannes den Umriss einer Herzschaufel. Als das Handwägelchen an mir vorbeifuhr, war die Herzschaufel ein versengter Fleck von einem Bügeleisen und der Hund ein Blechkanister mit einem emaillierten Trichter im Hals. Als ich dem Mann nachschaute, war der Kanister mit dem Trichter wieder ein Hund. Und ich war beim Neptunbad angekommen.
    Der Schwan auf dem Emblem oben hatte drei Glasfüße aus Eiszapfen. Der Wind wiegte den Schwan, ein Glasfuß brach ab. Auf dem Boden zersplittert war der Eiszapfen grobkörniges Salz, das man im Lager noch klopfen musste. Ich zerstampfte es mit dem Absatz. Als es fein genug zum Streuen war, ging ich durch das offene Eisentor und stand vor der Eingangstür. Ohne zu überlegen, ging ich durch die Tür in die Halle. Der dunkle Steinboden spiegelte wie ruhiges Wasser. Ich sah meinen hellen Mantel unter mir zur Kassenloge schwimmen. Ich verlangte eine Karte.
    Die Kassenfrau fragte: Eine oder zwei.
    Hoffentlich sprach aus ihrem Mund nur die optische Täuschung, nicht ein Verdacht. Hoffentlich sah sie nur den
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