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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel
Autoren: Herta Mueller
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Ecke zur anderen Bushaltestelle. Er trug einen Strohhut. Er war um einen Kopf größer als Emma und noch mit Strohhut, Emma musste den Schirm hochstrecken. Statt den Schirm zu tragen, drängte er sie halb in den Regen und steckte die Hand in die Tasche. Er sagte, wenn das Wasser Blasen macht, regnet es tagelang. Als seine Frau eingeschlafen ist, habe es auch so geregnet. Er habe das Begräbnis um zwei Tage verschoben, aber der Regen hat nicht mehr aufgehört. Die Kränze habe er über Nacht ins Freie gelegt, damit sie Wasser trinken, den Blumen habe das nicht geholfen, sie waren ersoffen und verfault. Dann wurde seine Stimme glitschig und brabbelte etwas, was mit dem Satz aufhörte: Meine Frau hat einen Sarg geheiratet.
    Als Emma sagte, Heiraten sei doch etwas anderes als Sterben, meinte er, vor beidem müsse man Angst haben. Als Emma fragte, wieso Angst, forderte er ihre Brieftasche. Sonst muss ich im Bus eine stehlen, sagte er, von einer gebrechlichen Vorkriegsdame. Und dort ist außer einem Bild von ihrem toten Mann nichts drin. Als er weglief, flog sein Strohhut in eine Pfütze. Emma hatte dem Mann ihre Brieftasche gegeben. Er hatte gesagt: Schrei nicht, sonst springt es. In seiner Hand war ein Messer.
    Als Emma mit der Geschichte fertig war, fügte sie noch den Satz hinzu: Angst kennt kein Pardon. Ich nickte.
    Solche Übereinstimmungen gab es oft mit Emma. Mehr sag ich nicht, weil ich mich, wenn ich rede, nur anders einpacke ins Schweigen, in die Geheimnisse aller Parks und aller Übereinstimmungen mit Emma. Unsere Ehe hat elf Jahre gehalten. Und Emma wäre weiter bei mir geblieben, das weiß ich. Aber nicht, warum.
    Zu der Zeit waren im Park DER KUCKUCK und DAS NACHTKÄSTCHEN verhaftet worden. Ich wusste, dass bei der Polizei fast alle reden und mir keine Ausrede etwas nützt, wenn die zwei DAS KLAVIER erwähnen. Ich stellte einen Besuchsantrag für Österreich. Die Einladung meiner Fini-Tante habe ich mir selbst geschrieben, damit es schneller geht. Nächstes Mal fährst du, sagte ich zu Emma. Sie war einverstanden, weil Ehepaare nie zusammen in den Westen reisen durften. Meine Fini-Tante hatte während meiner Lagerzeit nach Österreich geheiratet. Sie traf auf einer Reise mit dem SAURIER-Bus zu den Salzbädern nach Ocna Bǎi den Alois, einen Konditor aus Graz. Ich hatte Emma von der Brennschere, den Haarwellen und Heuschrecken unterm Organzakleid der Fini-Tante erzählt undmachte Emma glauben, dass ich die Tante wiedersehen und ihren Konditor Alois kennenlernen will.
    Es ist bis heute meine schwerste Schuld, ich habe mich für eine kurze Reise kostümiert, bin mit einem leichten Koffer in den Zug gestiegen und nach Graz gefahren. Von dort habe ich eine handgroße Karte geschrieben:
    Liebe Emma,
    Angst kennt kein Pardon.
    Ich komme nicht wieder.
    Emma kannte den Satz meiner Großmutter nicht. Wir hatten nie übers Lager gesprochen. Ich habe auf den Satz zurückgegriffen und ihm auf der Karte das Wort NICHT beigefügt, damit auch sein Gegenteil hilft.
    Das war vor mehr als dreißig Jahren.
    Emma hat wieder geheiratet.
    Ich habe mich nie mehr gebunden. Nur Wildwechsel.
    Die Dringlichkeit der Gier und Niedertracht des Glücks ist längst eine andere Zeit, wenn auch mein Hirn sich noch auf Schritt und Tritt verführen lässt. Mal ist es ein gewisses Schlenkern auf der Straße, mal sind es im Laden zwei Hände. In der Straßenbahn ist es diese gewisse Art des Platzsuchens. Im Zugabteil bei der Frage: Ist hier noch frei, dies gedehnte Zögern, und gleich danach bestätigt sich meine Intuition in dieser gewissen Art, das Gepäck zu verstauen. Im Restaurant ist es, unabhängig von der Stimme, diese gewisse Art des Kellners, zu sagen: Ja, mein Herr. Am meisten verführt mich bis heute das Kaffeehaus. Ich setz mich an den Tisch und gehe die Gäste durch. Bei ein, zwei Männern ist es diese gewisse Art des Schlürfens an der Tasse. Und beim Abstellen der Tasse glänzt die Innenhaut ihrer Unterlippe wie rosa Quarz. Bei ein, zwei Gästen, bei allen anderen nicht.
    Wegen ein zwei Gästen stehen mir die Muster der Erregung im Kopf. Auch wenn ich weiß, dass sie erstarrt wie Nippfiguren in einer Vitrine sind, geben sie sich jung. Auch wenn sie wissen, dass ich nicht zu ihnen passe, weil ich vom Alter geplündert bin. Einmal war ich vom Hunger geplündert und passte nicht mehr zu meinem Seidenschal. Ich wurde wider Erwarten mit neuem Fleisch genährt. Doch gegen das Plündern des Alterns hat noch niemand neues Fleisch
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