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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel
Autoren: Herta Mueller
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größer als die Überraschung war, es war eine freudlose Erleichterung im Haus, als ich wiederkam. Ich hatte ihre Trauerzeit betrogen, weil ich lebte.
    Seit ich wieder daheim war, hatte alles Augen. Alles sah, dass mein herrenloses Heimweh nicht wegging. Vor dem größten Fenster stand die Nähmaschine mit dem verfluchten Schiffchen und dem weißen Zwirn unter ihrem Holzdeckel. Das Grammophon war wieder in mein abgenutztes Köfferchen eingebaut und stand auf dem Ecktisch wie immer. Dieselben grünen und blauen Gardinen ließen sich hängen, dieselben Blumenmuster schlängelten sich in den Teppichen, die verfilzten Fransen säumten sie immer noch ein, die Schränke und Türen quietschten beim Öffnen und Schließen wie eh und je, die Fußböden knarrten an denselben Stellen, der Handlauf der Verandatreppen war noch an derselben Stelle rissig, jede Treppenstufe ausgetreten, am Geländer baumelte derselbe Blumentopf in seinem Drahtkorb. Nichts ging mich was an. Ich war eingesperrt in mich und aus mir herausgeworfen, ich gehörte nicht ihnen und fehlte mir.
    Bevor ich ins Lager kam, waren wir siebzehn Jahre zusammen, teilten uns die großen Gegenstände wie Türen, Schränke, Tische, Teppiche. Und die kleinen Dinge wie Teller und Tassen, Salzstreuer, Seife, Schlüssel. Und das Lichtder Fenster und der Lampen. Jetzt war ich ein Ausgewechselter. Wir wussten voneinander, wie wir nicht mehr sind und nie mehr werden. Fremdsein ist bestimmt eine Last, aber Fremdeln in unmöglicher Nähe eine Überlast. Ich hatte den Kopf im Koffer, ich atmete russisch. Ich wollte nicht weg und roch nach Entfernung. Ich konnte nicht den ganzen Tag im Haus zubringen. Ich brauchte eine Arbeit, um das Schweigen zu verlassen. Ich war jetzt 22 Jahre alt, hatte aber nichts gelernt. Ist Kistennagler ein Beruf, ich war wieder Handlanger.
    Im August kam ich am späten Nachmittag aus der Kistenfabrik, und auf dem Verandatisch lag ein Brief für mich. Er war vom Rasierer Oswald Enyeter. Mein Vater sah mir beim Lesen zu, wie wenn einem jemand auf den Mund schaut beim Essen. Ich las:
    Lieber Leo! Hoffentlich bist du wieder in der Heimat. Bei uns zu Hause war niemand mehr. Ich bin weitergezogen nach Österreich. Jetzt wohne ich in Wien – Margareten, viele Landsleute von uns sind hier. Vielleicht kommst du einmal nach Wien, dann kann ich dich wieder rasieren. Ich habe bei einem Landsmann wieder eine Stelle als Friseur gefunden. Tur Prikulitsch hat verbreitet, dass er im Lager der Rasierer war und ich der Kapo. Bea Zakel hat sich zwar von ihm getrennt, trotzdem behauptet sie das weiter. Ihr Kind hat sie Lea getauft. Hat das was mit Leopold zu tun? Vor zwei Wochen haben Bauarbeiter Tur Prikulitsch unter einer Donaubrücke gefunden. Sein Mund war geknebelt mit seiner Krawatte, und seine Stirn war mit der Axt in der Mitte durchgehackt. Die Axt lag auf seinem Bauch, von den Mördern keine Spur. Schade, dass ich es nicht war. Er hat es verdient.
    Als ich den Brief zusammenlegte, fragte mein Vater:
    Hast du ein Kind in Wien.
    Ich sagte: Du hast den Brief gelesen, das steht aber nicht drin.
    Er sagte: Man weiß ja nicht, was ihr im Lager alles gemacht habt.
    Man weiß es nicht, sagte ich.
    Die Mutter hielt meinen Ersatzbruder Robert an der Hand. Und Robert hielt den mit Sägemehl ausgestopften Stoffhund, den Mopi, auf dem Arm. Dann ging die Mutter mit Robert in die Küche. Als sie wiederkam, hielt sie an der einen Hand den Robert und in der anderen einen Teller Suppe. Und Robert presste den Mopi an seine Brust und hielt in der Hand den Löffel für die Suppe. Also für mich.
    Seit ich in der Kistenfabrik war, streunte ich nach Feierabend durch die Stadt. Die Winternachmittage schützten mich, weil es früh dunkel war. Die Vitrinen der Geschäfte standen in gelbem Licht wie Haltestellen. Neu ausstaffiert warteten darin zwei, drei Gipsmenschen auf mich. Sie standen eng beieinander, mit Preisschildern vor den Fußspitzen, als müssten sie aufpassen, wo sie hintreten. Als wären die Preisschilder vor ihren Füßen Markierungen der Polizei, als wäre, kurz bevor ich kam, ein Toter weggetragen worden. Die kleineren Auslagen standen in Fensterhöhe. Sie waren vollgestopft mit Porzellan- und Blechgeschirr. Ich trug sie im Vorbeigehen wie Schubladen auf der Schulter. In einem traurigen Licht warteten lauter Sachen, die länger halten, als die Leute leben, die sie kaufen. Vielleicht so lang wie das Gebirge. Vom Großen Ring zog es mich in die Wohnstraßen. In den Fenstern
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