Atemschaukel
blieben immer Handlanger, und Handlanger ist kein Beruf.
Wir hatten keinen wilden Hunger mehr, und das Meldekraut wuchs immer noch silbergrün, wurde bald holzig und flackernd rot. Nur weil wir den Hunger kannten, pflückten wir es nicht und kauften uns fettiges Essen auf dem Basar und aßen besinnungslos viel. Nun wurde das alte Heimweh schwammig gemästet mit neuem, eiligem Fleisch. Und ich musste mir mit dem neuen Fleisch immer noch das Alte einreden: Einmal werde auch ich aufs elegante Pflaster kommen. Auch ich.
Gründlich wie die Stille
Als ich die Hautundknochenzeit und den Rettungstausch hinter mir – als ich Ballettki, Bargeld, zu essen, neues Fleisch auf der Haut und neue Kleider im neuen Koffer vor mir hatte, kam die unzumutbare Entlassung. Für alle fünf Jahre Lager kann ich heute fünf Dinge sagen:
1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.
Der Nullpunkt ist das Unsagbare.
Der Rettungstausch ist ein Gast von drüben.
Das Lager-Wir ist ein Singular.
Der Umfang geht ins Tiefe.
Aber für alle fünf Dinge gilt ein- und dasselbe:
Sie sind gründlich wie die Stille zwischen ihnen und nicht vor Zeugen.
Der Nichtrührer
Anfang Januar 1950 kam ich aus dem Lager nach Hause. Jetzt saß ich wieder in einem Wohnzimmer, in einem tiefen Viereck unter der weißen Stuckdecke wie unterm Schnee. Der Vater malte die Karpaten, alle paar Tage ein neues Aquarell mit grauzähnigen Bergen und schneeverwischten Tannen, fast auf jedem Bild gleich sortiert. Am Fuß des Gebirges Reihentannen, am Hang Gruppentannen, auf dem Kamm Tannenpaare und Einzeltannen, dazwischen hie und da eine Birke wie weißes Geweih. Am schwersten zu malen sind offenbar Wolken, sie glichen auf allen Bildern grauen Diwankissen. Auf jedem Aquarell waren die Karpaten schläfrig.
Der Großvater war gestorben. Die Großmutter saß in seinem Plüschsessel und machte Kreuzworträtsel. Hie und da fragte sie ein Wort: Kanapee im Orient, Teil des Schuhs mit Z, Pferderasse, Dach aus Segeltuch.
Die Mutter strickte ein Paar Schafwollsocken nach dem anderen für ihr Ersatzkind Robert. Das erste Paar waren grüne, das zweite weiße. Dann braune, rotweiß gesprenkelte, blaue, graue. Mit dem weißen Paar hatte die Verwirrung angefangen – die Mutter strickte Läuseklumpen. Seither sah ich in allen Socken unsere gestrickten Gärten zwischen den Baracken, Pulloverzipfel im Morgengrauen. Ich lag auf dem Diwan, das Wollknäuel lag in der Blechschüssel neben dem Stuhl der Mutter, es war lebendiger als ich. Der Faden kletterte, ließ sich hängen und fallen. Zweifaustdicke Knäuel machten eine fertige Socke, die ganze Länge der Wolle war nicht zu berechnen. In allen Socken addiert, entsprach sie vielleicht der Entfernung vom Diwan zum Bahnhof. Ich mied die Bahnhofsgegend. Ich hatte jetzt warme Füße, nur die Frostflecken juckten am Rist, wo die Fußlappen immer zuerst an die Haut gefroren waren. Die Wintertage wurden schon gegen vier Uhr grau. Die Großmutter knipste das Licht an. Der Lampenschirm war ein hellblauer Trichter mit dunkelblauem Quastenrand. Die Decke bekam wenig Licht, der Stuck blieb grau und begann zu schmelzen. Am nächsten Morgen war er wieder weiß. Ich bildete mir ein, dass er nachts, wenn wir in anderen Zimmern schlafen, frisch gefriert wie die Eisstickereien im Brachland hinterm Zeppelin. Neben dem Schrank tickte die Uhr. Das Pendel flog und schaufelte unsere Zeit zwischen die Möbel vom Schrank zum Fenster, vom Tisch zum Diwan, vom Ofen zum Plüschsessel, vom Tag in den Abend. An der Wand war das Ticken meine Atemschaukel, in meiner Brust war es meine Herzschaufel. Sie fehlte mir sehr.
Ende Januar holte mich mein Onkel Edwin frühmorgens ab, um mich seinem Meister in der Kistenfabrik vorzustellen. Draußen auf der Schulgasse, ein Haus weiter im Fenster vom Herrn Carp, stand ein Gesicht. Es war unterm Hals vom Muster der Eisblumen abgeschnitten. Um die Stirn lag ein Zopf aus Eishaaren und neben der Nasenwurzel ein grünlich abgleitendes Auge – ich sah Bea Zakel im weißgeblümten Morgenmantel mit einem schweren grauen Zopf. Im Fenster saß wie jeden Tag die Katze vom Herrn Carp, aber mir tat es leid um Bea, dass sie so schnell gealtert ist. Ich wusste, dass die Katze nur eine Katze sein kann, die Telegrafenstange kein Wachposten, das weiße Brennenauf dem Schnee nicht der Lagerkorso, sondern die Schulgasse. Dass alles hier zu Hause nicht anders sein kann, weil es bei sich geblieben ist. Alles, außer mir. Zwischen den heimatsatten Leuten war ich
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