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Assassini

Assassini

Titel: Assassini
Autoren: Thomas Gifford
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Konzentration erreichen, daß man darüber vergißt, diesen Zustand willentlich angestrebt zu haben. Er war nun fast soweit. Das Schlittschuhlaufen brachte ihn diesem Ziel näher und näher. Bald würde er zu existieren aufhören, würde sich in ein einziges, allsehendes Auge verwandeln, dem nichts entgehen konnte; in eine allbewußte Wesenheit, die fähig war, eins zu sein mit ihrer Aufgabe und mit Gottes Ratschlüssen. Bald. Sehr bald.
    Er trug einen schwarzen Anzug mit Priesterkragen und einen schwarzen Regenmantel, der wie ein Umhang hinter ihm herflatterte, während er sich geschickt und anmutig durch die Menge der anderen Läufer bewegte, größtenteils Teenager. Der Gedanke, daß der wehende schwarze Mantel ihm ein befremdliches, ja bedrohliches Aussehen verleihen könnte, war ihm nie gekommen. In solchen Kategorien dachte er nicht. Das war ihm zu banal. Er war Geistlicher. Er war die Kirche. Er besaß ein außergewöhnlich gewinnendes, freundliches Lächeln. Er verkörperte das Gute; man brauchte ihn nicht zu fürchten. Dennoch neigten die meisten der anderen Schlittschuhläufer dazu, ihm auszuweichen; sie betrachteten ihn beinahe verstohlen, als befürchteten sie, er könnte auf den Grund ihrer Seele blicken. Ein größerer Irrtum hätte ihnen nicht unterlaufen können.
    Er war hochgewachsen, mit gewelltem weißem Haar, das er aus der hohen, geraden Stirn straff nach hinten gekämmt hatte. Sein Gesicht war schmal, die Nase lang, der Mund breit und dünnlippig. Es war ein Gesicht, auf dem sich tiefe Erfahrung spiegelte, ein duldsames Gesicht, wie das eines gestandenen Landarztes, der das Leben zu begreifen gelernt hatte und den Tod nicht mehr fürchtete. Seine Haut war von einer fast durchscheinenden Blässe, geboren in einem langen, priesterlichen, abgeschiedenen Leben, das er größtenteils in dämmrigen Kapellen und Klosterzellen verbracht hatte. Eine Blässe, geboren in endlosen Stunden des Betens. Er trug eine schlichte Brille mit stählerner Fassung. Das Schlittschuhlaufen, die innere Versenkung zauberten ein leichtes Lächeln auf seine dünnen Lippen. Er war schlank und noch immer sehr gut in Form. Er war siebzig Jahre alt.
    Während er über das Eis glitt, hielt er die Arme vorgestreckt und die Hände geöffnet, als würde er mit einer unsichtbaren Partnerin tanzen. Er trug hautenge schwarze Lederhandschuhe. Aus den Lautsprechern drang Musik von einer zerkratzten Schallplatte. Eine Mädchenstimme sang ein Lied aus einem Film, den er während des Fluges mit der 747 der Alitalia hierher nach New York gesehen hatte.
    Er kurvte elegant zwischen den Gruppen von Kindern hindurch, die sich unbeholfen auf dem Eis bewegten, und zwischen den hübschen jungen Mädchen in engen Jeans, langem, wehendem Haar und strammen Hinterteilen. Mädchen in einem gewissen Alter hatten ihn immer an herumtollende, übermütige Fohlen erinnert. Er hatte noch nie eine nackte Frau gesehen. Er hatte an derlei Dinge ohnehin kaum jemals einen Gedanken verschwendet.
    Er streckte ein Bein leicht vor und glitt auf nur einer Kufe dahin, wechselte geschickt auf das andere Bein, hielt mit vorgestreckten Armen das Gleichgewicht, während er saubere, präzise Kreise zog; seine Augen waren zu Schlitzen verengt, sein Gesicht zeigte den Ausdruck äußerster Konzentration, als blicke er ins Herz der Zeit, während sein Körper über das schimmernde Eis dahinflog, vorangetrieben durch die Kraft der Erinnerung. Seine Augen waren starr nach vorn gerichtet und schienen in weite Fernen zu blicken. Sie waren eisblau, klar wie Kristall und von unergründlicher Tiefe wie stille Seen hoch oben in den Bergen. Keinerlei Regung spiegelte sich darin wider. Seine Augen nahmen jetzt kaum noch Anteil an dem, was um ihn herum geschah.
    Ein paar Mädchen flüsterten miteinander und kicherten leise, während sie den alten Mann im schwarzen Priestergewand beobachteten, der in der bunten Menge so ernst, so asketisch und feierlich wirkte; dennoch lag ein Hauch von Respekt in den Augen seiner heimlichen Zuschauer, ein Respekt, der seinen Schlittschuhkünsten galt, der Kraft und Eleganz seiner Bewegungen.
    Er aber nahm kaum Notiz von den Menschen. Er war zu sehr damit beschäftigt, über den vor ihm liegenden Tag nachzudenken.
    Plötzlich stürzte vor ihm ein hübsches junges Mädchen von etwa vierzehn Jahren aufs Eis und blieb auf dem Hosenboden sitzen, dem Gelächter ihrer Freundinnen preisgegeben. Sie schüttelte zornig den Kopf, daß ihr Pferdeschwanz flog.
    Er
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