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Ashby House

Ashby House

Titel: Ashby House
Autoren: V Ludewig
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penetranten Gestank, der vom Herd ausging. Es roch, als erwache etwas vor langer Zeit Verkohltes zu neuem Leben.
    Laura goss den Tee auf. Wie spät mochte es sein? Und wo blieben die Dienstboten? Draußen stürmte und schneite es, und es war unmöglich, anhand der Lichtverhältnisse Rückschlüsse auf die Tageszeit zu ziehen. Sie musste zugeben, dassman bei einem solchem Unwetter nicht pünktlich sein konnte und dass sie beide Glück gehabt hatten, vor Einsetzen des Sturmes in Ashby House eingetroffen zu sein. Waren ihre Lebensgeister schon dermaßen geschwächt, dass sie freudig die Ankunft von Dienstboten erwartete, da sie eine willkommene Abwechslung und mit etwas Glück eine zeitweise Befreiung aus der Isolationshaft mit ihrer Schwester boten?
    »Wo bleibst du?«, hörte sie Lucille rufen. Jetzt wusste sie, wie spät es war. Verlässlich eine Viertelstunde früher als am Vortag, als Lucille ihr Morphium verlangt hatte. Die Dosis blieb unverändert, entsprechend verkürzte sich die Wirkungsdauer der Droge.
    »Ich brauche meine Medizin.«
    »Komme.«
    Mittagszeit also.
     
    Lucille hatte ihren Vikunja-Schal vom Kopf genommen und ihn als stumme Aufforderung auf den Boden geworfen. Laura schob ihn unter dem wachsamen Blicken ihrer Schwester mit dem Fuß beiseite und platzierte das mitgebrachte Tablett auf einem niedrigen Tisch. »Tee?«
    Wortlos griff Lucille in die Innentasche ihres Mantels, zog einen metallenen Flakon hervor, schraubte den Verschluss ab und nahm einen Schluck. Die züngelnden Flammen spiegelten sich auf der glänzenden Oberfläche. Nach einem weiteren kräftigen Schluck verstaute sie ihre Ration Bombay Sapphire wieder an ihrem gewohnten Platz.
    »Morphium gefällig?« Laura präsentierte die Phiole mit einem Lächeln. »Oder lieber etwas Lau-ra-num?« Sie schüttelte die Phiole wie ein Rhythmusgerät.
    »Gib schon her.«
    Laura drehte sich zur Seite, setzte die Fußspitze auf denBoden und schwenkte ihre Ferse hin und her. Wie wunderbar, dass sie ein Tanzbein hatte, das sie schwingen konnte! Lucille dagegen   …
    »Mach!« Wenn sie schrie, verwandelte sich Lucilles klassisch geschnittenes Gesicht in die Fratze eines Raubvogels: die gewölbte Stirn, die hohen Wangenknochen, die markante Nase, die ewas zu kurze Oberlippe, die ihre scharfen weißen Zähne freilegte, und die Mundwinkel, die sich herabzogen und dabei den Wasserspeier-Schnitzereien auf den Schränken ähnelten. Man hatte Lucilles Gesicht oft als edel und aristokratisch bezeichnet, aber Wut und Verzweiflung hatten es zu einer Maske erstarren lassen. Bitterkeit war in ihre Züge gekrochen und hatte das, was schön gewesen war, beharrlich und erfolgreich ruiniert. Auch wenn ihre Haut auf wundersame Weise faltenfrei geblieben war, war ihr anzusehen, dass sie die vierzig erreicht, wenn nicht gar überschritten hatte. (Tatsächlich war sie neunundvierzig Jahre alt, dreizehn Jahre älter als ihre Schwester, die ein Geheimnis durchaus wahren konnte, wenn sie sich etwas davon versprach. Laura tolerierte Lucilles Alterslügen, um sich selbst jünger zu machen und nicht als alte Jungfer im Schatten ihrer großen Schwester zu stehen. Sie hatte die Hoffnung, dass jemand etwas anderes in ihr sehen könnte als Lucille Shalotts kleine Schwester, noch nicht aufgegeben.) Lucilles hochgesteckte unnatürlich gelbblonde Haare waren unter dem Tuch zerdrückt worden. Einige Strähnen hatten sich gelöst. Die Anstrengungen der Reise waren ihr deutlich anzusehen, und über ihrer teuren Garderobe schwebte der Hauch einer unabwendbaren Verwahrlosung.
    Laura brach das Spiel ab, das ihr schon lange keinen richtigen Spaß mehr machte, und warf ihrer Schwester die Phiole zu.
    Lucille musste sich weit vorbeugen, um sie zu fangen, und fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Miststück!«
    Aus dem Sortiment möglicher Repliken wählte Laura mit Treffsicherheit:
    »Krüppel!«
    Bevor Lucille antworten, ja noch bevor sie die Phiole öffnen konnte, was ihr zu diesem Zeitpunkt dringlicher schien, geschah etwas, das beide Schwestern innehalten ließ. Ein klarer Schrei, so weiß wie der Schnee, zerriss die winterliche Stille, ein Schrei, gefolgt von den wütenden Lauten eines wilden Tieres.
    Stockstill standen die Schwestern, wie schockgefroren in ihren Positionen, als die Flügeltüren von Ashby House zu bersten schienen. Eine Schneewolke stob herein und trug, sein langes blondes Haar aufwirbelnd, einen schmalen Mann in schwarzem Gehrock, kalkweiß in dem kantigen
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