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Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Titel: Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Autoren: Hellmut Flashar
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ist auch nicht nachtragend, denn es passt nicht zum Großgesinnten, sich an alles zu erinnern, zumal an das Böse, sondern eher darüber hinweg zu sehen. Er liebt nicht den Klatsch, denn er spricht weder gern über sich selbst noch über einen anderen … Der Großgesinnte hat eine ruhige Art, sich zu bewegen, eine tiefe Stimme und eine gemessene Sprache, denn wer sich für Weniges ernstlich einsetzt, braucht sich nicht zu übereilen (IV 7, 1123 b 1–1125 a 25, übers. W. Jaeger).
    Es tritt uns ein ideales und zugleich wirkliches Menschenbild entgegen. Das Ideal ist nicht mehr ein mythischer Held wie Aias oder Achill, nicht mehr der an Stand und Besitz gebundene Angehörige der archaischen Adelsschicht, auch nicht der Polisbürger der perikleischen Zeit, sondern ein weltoffener Repräsentant einer zivilen Gesellschaft, dessen Wesenszüge die anderen ethischen Tugenden, wie sie Aristoteles darstellt, zu überragen scheinen.
    Aber die Großgesinntheit ist auch ein Zeugnis für das Bestreben des Aristoteles, den Kreis der ethischen Tugenden auszuweiten in Richtung auf den geselligen Verkehr, wie dies in den Tugenden «Aufrichtigkeit», «Freundschaft» und «Gewandtheit» besonders deutlich wird. Auch hier spürt man das allgemein Menschliche, losgelöst von jeglicher Begrenzung auf ein bestimmtes Staatsmodell. Bei der Tugend der «Gewandtheit» kommt dies besonders zum Ausdruck.
Tätiges Leben wird durch Zeiten der Erholung unterbrochen, in denen Muße und Kurzweil ihren Platz haben. Und auch hierbei gibt es einen gewissen Takt der Umgangsformen, ein richtiges Gefühl für das, was man da redet oder anhört, und auch für das Wie. Dabei wird es auch nicht gleichgültig sein, in welcher Gesellschaft man etwas zum Besten gibt oder etwas zu hören bekommt. Klar ist jedenfalls, dass es auch hier ein Überschreiten und ein Nichterreichen der rechten Mitte gibt. Wer die Grenzen des Lustigen überschreitet, gilt als Hanswurst und als grobschlächtig. Er hascht um jeden Preis nach dem Lächerlichen. Es kommt ihm mehr darauf an, die Leute zum Lachen zu reizen, als einen Scherz in netter Form vorzubringen und zu vermeiden, dass der Betroffene sich gekränkt fühlt. Den Gegensatz dazu bilden solche, die keinen Scherz von sich zu geben vermöchten und die ein Gesicht ziehen, wenn ein Witz fällt. Das sind Holzklötze und steife Gesellen (IV 14, 1127 b 33–1128 a 9).
    Bei derartigen Analysen menschlicher Befindlichkeiten gerät leicht der übergeordnete Gesichtspunkt, die Frage nach dem Glück, das erreicht wird durch die Verwirklichung der Tugenden, aus dem Blick. Und in der Tat geht der Trend in der nacharistotelischen Philosophie in Richtung auf eine Verselbständigung der Teilaspekte, wofür die Charaktere Theophrasts ein sinnfälliges Beispiel bieten. Ein reiches Reservoir derartiger Charakterisierungen von Typen bildet auch die zeitgenössische Komödie – deren Werke weitgehend verloren sind –, auf die sich Aristoteles ausdrücklich beruft: «Man kann dies auch an den alten und neuen Komödien sehen» (IV 14, 1258 a 22).
    Merkwürdigerweise behandelt Aristoteles die im älteren griechischen Denken fest verwurzelte und auch bei Platon voll integrierte Tugend der «Frömmigkeit»nicht, obwohl sie sich der Bestimmung als Tugend als Mitte zwischen Gottlosigkeit und Frömmelei durchaus eingliedern ließe. Aber der diesseitige, aufgeklärte Charakter der aristotelischen Ethik lässt die Eusebeia beiseite. Das Wort (in der substantivischen Form) kommt im gesamten Werk des Aristoteles nicht vor.
    G ERECHTIGKEIT
    Mit dem Thema Gerechtigkeit, das das ganze fünfte Buch der Nikomachischen Ethik füllt, sind wir wieder im Bereich der traditionellen Kardinaltugenden.[ 10 ] Man könnte erwarten, dass Aristoteles nun eine große Auseinandersetzung mit Platons Begriff von Gerechtigkeit führt, wie sie vor allem im Staat ( Politeia ) entfaltet wird. Das geschieht aber nicht. Es ist geradezu auffällig, wie jeder Bezug zu dieser für die platonische Philosophie zentralen Thematik vermieden wird. Wohl knüpft Aristoteles an die alte Tradition an, wonach die Gerechtigkeit der Inbegriff aller Tugenden ist. Er zitiert den Vers des Theognis: «In der Gerechtigkeit ist jede Tugend zusammengefasst» (147) und das Sprichwort: «Weder der Abend- noch der Morgenstern ist so wunderbar» (V 3, 1129 b 28–30). Und auch selber bestimmt er die Gerechtigkeit als «vollendete Tugend». Aber gerade damit beginnt das Problem. Wenn die Gerechtigkeit in das
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