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Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Titel: Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Autoren: Hellmut Flashar
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Gerechtigkeit führt. Es fällt auf, dass Aristoteles diesen relativ leicht verständlichen Gedanken durch komplizierte Berechnungen sehr umständlich ausdrückt, wie überhaupt das ganze fünfte Buch der Nikomachischen Ethik von Zwischen- und Nebenbemerkungen durchsetzt ist, zum Schaden der Lesbarkeit. So wird auch die wichtige Unterscheidung von Naturrecht und geschriebenem Recht (der Polis) nur eben gestreift (V 10, 1134 b 18–1135 a 15).
    Jedenfalls ist Aristoteles bemüht, alle Facetten von Geschäften und Verträgen aller Art sowie deren Verletzung zu erfassen, wobei er auch Spezialfragen einbezieht, beispielsweise, ob man sich selber Unrecht tun kann, ob man freiwillig Unrecht leiden kann usw. Das alles wird gebündelt und subsumiert unter die Kategorie der ethischen Tugend als Mitte, und so ist ihm die «Verwirklichung der Gerechtigkeit die Mitte zwischen Unrechttun und Unrechtleiden» (V 9, 1133 b 3).
    Schließlich fügt Aristoteles ein Kapitel über die «Billigkeit»hinzu (V 14), wobei die deutsche Übersetzung mit «Billigkeit» nicht ganz unproblematisch ist (Dirlmeier: «Güte in der Gerechtigkeit»). Die Sache selbst ist von enormer Bedeutung und Wirkung auf das römische und damit das europäische Rechtsdenken geworden. Cicero hat für dieses Phänomen das offenbar sprichwörtliche Dictum: «summum ius summa iniuria» (das strengste Recht kann das größte Unrecht sein) überliefert ( De officiis I 33), das Kant als «Sinnspruch der Billigkeit schlechthin» in seinem Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre bezeichnet hat.[ 12 ] Aristoteles kennt durchaus diese Form der «Billigkeit», die sich gegen die pedantische und buchstabengetreue Auslegung des Gesetzes absetzt (V 14, 1138 a 1). Im Ganzen aber möchte er den Spielraum der «Billigkeit» eher eng halten. Die «Billigkeit» kommt in der Art einer Generalklausel zur Anwendung bei Lücken im Gesetz, das nicht alle Einzel- und Sonderfälle voraussehen kann. So gilt die Billigkeit als «Berichtigung des Gesetzes, da wo es wegen seines allgemeinen Charakters lückenhaft ist» (V14, 1137 b 26–27). Sie verwirklicht die Absicht des Gesetzgebers und ist insofern das bessere Recht.
    D IE DIANOETISCHEN T UGENDEN
    Aristoteles hatte im ersten Buch der Nikomachischen Ethik die dem rationalen Seelenteil zugeordneten Wesensvorzüge «dianoetische Tugenden» (I1 3, 1103 a 5) genannt und sie zu Beginn des zweiten Buches den ethischen Tugenden an die Seite gestellt. Entsprechend erwartet man jetzt eine Analyse der dianoetischen (verstandesmäßigen) Tugenden. Das erfolgt auch, jedoch anders als bei den ethischen Tugenden. Zunächst bestimmt Aristoteles die dianoetischen Tugenden nicht als Mitte zwischen zwei Extremen, obwohl man sich das im Einzelfall vorstellen könnte (Dummheit – Klugheit – Einbildung). Ferner behandelt er die dianoetischen Tugenden relativ kurz; nur der «Klugheit»Phronesis) wird viel Raum gegeben. Das hängt damit zusammen, dass Aristoteles nicht eigentlich die dianoetischen Tugenden nur aufzählen möchte, sondern unter ihnen diejenige Tugend sucht, die ethisches Handeln zu dirigieren vermag. Dazu trifft er eine Unterscheidung innerhalb des rationalen Seelenteiles dahingehend, ob das Vermögen der Seele sich auf das Ewige, Unveränderliche oder auf das Veränderliche und damit auf die Welt des Handelns bezieht. So zählt er fünf dianoetische Tugenden auf:

    Die deutschen Übersetzungen dieser Begriffe sind nur als Annäherungen zu verstehen, so wirdauch mit «Kunst»,mit «sittliche Einsicht» oder «praktische Umsicht»,mit «intuitiver Verstand» usw. wiedergegeben.
    Das Verfahren des Aristoteles besteht nun in immer wieder neuen Anläufen und gelegentlich unübersichtlichen Darstellungen darin, diejenigen dianoetischen Tugenden als Vermögen des rationalen Seelenteiles auszuscheiden, die nicht Ausgangspunkt und Norm ethischen Handelns sein können. Das betrifft zunächst die Gruppe: «wissenschaftliche Erkenntnis», «Weisheit», «Denken», die sich auf das Ewige, Unveränderliche und gelegentlich auch auf Vergangenes beziehen. Ethisches Handeln hat es aber mit der Gegenwart zu tun, «niemand nimmt sich vor, Troia zerstört zu haben» (VI 2, 1139 b 6). Besonders interessant sind in der Argumentation die blitzartig aufleuchtenden Zwischenbemerkungen wie: «das Vergangene kann unmöglich nicht geschehen sein» (VI 2, 1139 b 8) oder: «Es gibt Dinge, die ihrer Natur nach göttlicher sind als der Mensch» (VI 7, 1141 b 1) oder:
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