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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina
Autoren: Lew Tolstoi
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das Dasein Gottes darin besteht, daß er uns offenbart
    hat, was das Gute ist, warum beschränkt sich dann diese Offenbarung allein auf die christliche Kirche? Welche
    Beziehung zu dieser Offenbarung haben die Religionen der Buddhisten, der Mohammedaner, die doch auch das Gute als
    Ziel des menschlichen Handelns bekennen und das Gute tun?
    Er glaubte, eine Antwort auf diese Frage zu haben; aber er hatte noch nicht Zeit gehabt, dieser Antwort eine
    feste Form zu geben, als er schon ins Kinderzimmer trat.
    Kitty stand mit aufgestreiften Ärmeln an der Badewanne, über das darin herumplätschernde Kind gebeugt; als sie
    die Schritte ihres Mannes hörte, wendete sie ihm ihr Gesicht zu und rief ihn durch ein Lächeln zu sich heran. Mit
    der einen Hand hielt sie unter dem Kopf den auf dem Rücken schwimmenden und mit den Beinchen strampelnden dicken,
    kräftigen Kleinen, mit der anderen drückte sie, die Muskeln gleichmäßig anspannend, den Schwamm über ihm aus.
    »Nun sieh nur, sieh nur mal!« sagte sie, als ihr Mann zu ihr trat. »Agafja Michailowna hat recht: er
    erkennt.«
    Es handelte sich darum, daß Dmitri seit dem heutigen Tage augenscheinlich und zweifellos alle die Seinigen
    erkannte.
    Als Ljewin an die Badewanne herantrat, wurde ihm sofort ein Versuch vorgeführt, und der Versuch gelang
    vollkommen. Die Köchin, die eigens zu diesem Zwecke hereingerufen wurde, beugte sich über den Kleinen. Er machte
    ein finsteres Gesicht und schüttelte verneinend mit dem Kopfe. Nun beugte sich Kitty über ihn: da überzog ein
    strahlendes Lächeln sein Gesicht, er stemmte sich mit den Händchen gegen den Schwamm und brachte, mit den Lippen
    prustend, einen so sonderbaren Laut der Zufriedenheit hervor, daß nicht nur Kitty und die Kinderfrau, sondern auch
    Ljewin überrascht und entzückt waren.
    Das Kind wurde auf einer Hand aus der Wanne gehoben, mit Wasser übergossen, in ein Leintuch gehüllt,
    abgetrocknet und nach durchdringendem Schreien der Mutter übergeben.
    »Nun, ich freue mich, daß du anfängst, ihn liebzuhaben«, sagte Kitty zu ihrem Manne, nachdem sie sich mit dem
    Kinde an der Brust ruhig auf ihren gewohnten Platz gesetzt hatte. »Ich freue mich recht darüber. Ich fing auch
    schon an, mich darüber zu ärgern. Du sagtest, daß du nichts für ihn empfändest.«
    »Aber nein, das habe ich doch nicht gesagt, daß ich nichts für ihn empfände. Ich habe nur gesagt, ich wäre
    enttäuscht.«
    »Was meinst du damit? Du bist von ihm enttäuscht gewesen?«
    »Ich bin nicht eigentlich von ihm enttäuscht gewesen, sondern von meinem Gefühle; von meinem Vatergefühle hatte
    ich mir eine größere Vorstellung gemacht. Ich hatte erwartet, es werde sich in ganz überraschender Weise in meinem
    Innern ein neues, wohltuendes Gefühl wie eine Blume erschließen. Und nun fühlte ich statt dessen nur Mitleid und
    eine Art von Widerwillen ...«
    Sie hörte ihm über das Kind hinweg aufmerksam zu und steckte dabei die Ringe, die sie abgelegt hatte, um Dmitri
    zu baden, wieder an die schlanken Finger.
    »Und die Hauptsache war«, fuhr Ljewin fort, »daß ich weit mehr Angst und Mitleid empfand als Vergnügen. Aber
    heute, nach dieser Angst bei dem Gewitter, da habe ich gemerkt, wie lieb ich ihn habe.«
    Über Kittys Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus.
    »Bist du sehr erschrocken gewesen?« fragte sie. »Ich auch; aber jetzt, wo es vorbei ist, erscheint es mir noch
    furchtbarer. Ich will morgen hingehen und mir die Eiche ansehen. Und was für ein liebenswürdiger Mensch Katawasow
    ist! Und überhaupt hat der ganze Tag einen so angenehmen Verlauf gehabt. Und du verträgst dich so nett mit Sergei
    Iwanowitsch, wenn du nur willst ... Nun, dann geh nur wieder zu ihnen. Nach dem Baden ist es hier immer heiß und
    ein feuchter Dunst ...«

19
    Sobald Ljewin das Kinderzimmer verlassen hatte und allein war, kam ihm sofort wieder jener Gedanke in den Sinn,
    der noch eine gewisse Unklarheit enthielt.
    Statt in das Wohnzimmer zu gehen, aus dem die Stimmen zu ihm herübertönten, blieb er auf der Terrasse stehen und
    betrachtete, auf das Geländer gestützt, den Himmel.
    Es war schon ganz dunkel geworden, und der Süden, wohin er blickte, war frei von Gewitterwolken; sie standen nur
    noch auf der entgegengesetzten Seite. Von dorther leuchteten Blitze auf und ertönte ferner Donner. Ljewin horchte
    auf die Tropfen, die gleichmäßig von den Linden im Garten herabfielen, und betrachtete das ihm wohlbekannte
    Sternendreieck und
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