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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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den Kleinen
Leuten, alt wie jung, wie durch eine gläserne Mauer getrennt
fühlten, durch die wir die Stadtbewohner vermutlich mit der
Akribie von Ameisenforschern studiert hatten, wenn wir nur je
die dazu notwendige Geduld aufgebracht hätten. Wie die Sache
lag, wurden sie uns jedoch schlichtweg egal.
    Umgekehrt war das nicht der Fall. Unsere Altersgenossen
fürchteten sich vor Dianne und mir, und wie jede durch nichts
zu begründende Angst, so bot auch diese einen fruchtbaren
Nährboden für Aberglaube. In den Schulpausen flüsterten
unsere Mitschüler einander zu, ein Blick von mir könne
jedermann in Stein verwandeln, ein einziges Wort Diannes ließe
Haare in Flammen aufgehen oder eine flüchtige Berührung
unserer Hände könne sie ihrer kleinen Stimmen berauben.
Dennoch gingen die Kinder nie so weit, uns tätlich anzugreifen
– das geschah nur ein einziges Mal, bei der Schlacht am Großen
Auge, wo Dianne dafür sorgte, dass ihnen die Lust auf weitere
Kämpfe für alle Zeiten verging -, aber sie verhöhnten uns mit
Schimpfworten, die genauso schmerzten wie Schläge.
Schließlich klappten wir zu wie Muscheln, die ihre Perlen vor
räuberischen Händen schützen.
    »Kinder sind Wachs in den Händen der Welt«, sagte Tereza,
als ich ihr davon berichtete. »Offene Bücher mit leeren Seiten,
die von uns Erwachsenen beschrieben werden. Was in den
ersten Kapiteln steht, kriegst du den Rest deines Lebens nicht
mehr aus der Wäsche.«
    Ich wusste, dass sie Recht hatte, denn ich sah, wie die Bücher
beschrieben wurden. Es gab Mitschüler, die jeden Morgen von
ihren Müttern zur Schule gebracht und zur Mittagszeit wieder
von ihnen abgeholt wurden. Es waren diese Mütter, die Dianne
und mich musterten, um dann ihren Kindern phantastische
Dinge über uns in die Ohren zu flüstern, und anschließend
warfen uns die Kinder mitleidige oder befremdete Blicke zu,
wenn wir mit unseren schäbigen Schultaschen, mal ohne Schirm
und Gummistiefel, durchnässt von Regen, dann wieder ohne
wärmenden Mantel oder Handschuhe, durchgefroren von eisiger
Winterkälte, morgens in der Schule ankamen. In den Augen der
Mütter wie in denen der Kinder musste Glass eine Rabenmutter
sein, unter deren Gleichgültigkeit Dianne und ich schrecklich zu
leiden hatten. Niemand schien auf die Idee zu kommen, dass
Glass uns Freiräume ließ, nach denen wir beide lautstark,
manchmal unter Protest und Tränen, verlangten. Wenn wir
weder Mantel noch Mütze oder Handschuhe trugen, dann
deshalb, weil wir uns in die Köpfe gesetzt hatten, den Winter
herauszufordern. Dass Schnee und Kälte aus diesem ungleichen
Kampf als Sieger hervorgingen, war zweitrangig; wichtig war
nur, dass wir den Elementen getrotzt hatten. Und Wärme holten
wir uns abends, wenn wir, in Decken gewickelt, mit Glass im
zugigen Kaminzimmer von Visible auf dem zerschlissenen Sofa
saßen, aneinander gekuschelt, die Füße versteckt in dicken
Wollsocken, der hohe, kahle Raum erleuchtet von flackernden
Kerzen und dem offenen Feuer. Dort schrieb Glass in uns: Seid
stark und wehrt euch. Wer euch verletzt, dem tut doppelt weh
oder geht aus dem Weg, aber lasst euch niemals vorschreiben,
wie ihr zu leben habt. Ich liebe euch, wie ihr seid.
    Sie gab uns das Gefühl, einmalig und einzigartig zu sein, und
die Idee, andere Kinder um ihre sie behütenden, flüsternden
Mütter zu beneiden, kam mir nie. Worum ich sie jedoch heftig
beneidete, waren ihre Väter. Es war nicht etwa so, dass ich mich
durch Glass nicht ausreichend beschützt fühlte, auch wenn es
einiger Jahre bedurfte, bis Dianne und ich gelernt hatten, den
Kleinen Leuten mit der gleichen Dickfelligkeit zu begegnen wie
unsere Mutter. Nein, was ich wollte, war eine Art zweite
Instanz, ein nach außen gekehrtes, greifbares Abbild der
Willenskraft und der Standhaftigkeit, die Glass innewohnten.
Glass mochte das Schiff unseres Lebens steuern, aber sie konnte
unmöglich, so bildete ich mir wenigstens ein, auch gleichzeitig
die Segel halten. Da ein Vater, der sich dazu bereit erklärte,
diese Aufgabe zu übernehmen, weit und breit nicht aufzutreiben
war und Glass auch keinerlei Anstalten machte, einen ihrer
Liebhaber dafür zu verpflichten, suchte ich einen Ersatz. Ich
fand ihn in Gable.
    GABLE IST DER EINZIGE VERWANDTE, von dem Glass
widerstandslos erzählt und den ich je zu Gesicht bekommen
habe. Er entstammt einer entfernten Seitenlinie der Familie, vor
der er schon als Jugendlicher
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