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An die Empoerten dieser Erde

An die Empoerten dieser Erde

Titel: An die Empoerten dieser Erde
Autoren: Stéphane Hessel
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diese spezifisch deutsche Problematik zurückkommen, die Sie, so scheint es mir, nicht ganz beantwortet haben. Deutschland hat eine Verpflichtung gegenüber Israel aus historischen Gründen. Aber wenn man diese historischen Gründe wirklich in ihrer ganzen Dimension begreifen will, und das legen Sie doch selber nahe, dann bedeutet das auch, dass es nicht nur eine historische Pflicht Deutschlands gegenüber Israel gibt, sondern auch eine gegenüber Palästina, denn die Heimstatt für die verfolgten Juden wurde an einem Ort geschaffen, wo bereits ein Volk war.
    S.H.: Da haben Sie ganz recht, und deshalb müssen wir Israel gegenüber stark bleiben. Natürlich geben wir Europäer auch den Palästinensern Geld. Bloß nehmen wir leider die Verpflichtung gegenüber den Palästinensern nicht so ernst wie die Verpflichtung gegenüber Israel. Aber noch einmal, es gibt das internationale Recht! Und mit ihm können wir darauf bestehen, dass die Palästinenser dasselbe Recht haben wie alle anderen, so wie die Menschen in Estland oder in Nicaragua zum Beispiel. Wenn es also undemokratisch, oligarchisch und tyrannisch zugeht und wenn der Frühling in die arabischen Länder einzieht, dann müssen wir selbstverständlich dabei sein und sie unterstützen. Wenn wir das nicht tun, dann wird sich ein Gefühl der Schuld einstellen. Mit Recht wird man uns dann sagen, wir hätten mehr tun können: für Ägypten, für Tunesien und eben für Palästina.
    R.M.: Alfred Grosser hat als Antwort auf die Debatte, die nach dem Gedicht von Grass ausgebrochen ist, in einemArtikel geschrieben, dass er auf Fragen von deutschen Schülern, wie man mit Israel umgehen müsse, jeweils sage, dass sie keine Schuld tragen, dass sie aber die Pflicht haben, an Hitler und das Dritte Reich zu denken und die Menschenwürde überall zu verteidigen, auch die der Palästinenser. Das scheint mir eine gute Auskunft zu sein. Was raten Sie den Deutschen insgesamt?
    S.H.: Das Schuldgefühl den Juden gegenüber wird Deutschland noch lange beschäftigen. Aber die Zukunft der Beziehung zwischen Deutschland und dem Nahen Osten und darüber hinaus mit der islamischen Welt – mit Indonesien, der Türkei, den arabischen Ländern –, das sind wichtige Probleme, die Deutschland eigentlich mit Europa regeln müsste. Daher war es keine schlechte Idee der Franzosen, eine »Union für das Mittelmeer« aufzubauen, in die die Deutschen ja auch gleich eingestiegen sind, weil sie dieses Feld nicht den Franzosen und den Südeuropäern allein überlassen wollten.
    Die Beziehung Europas mit der Welt des Islams, das ist es, worüber man heutzutage gut nachdenken muss. Und da hat Deutschland nicht weniger Verantwortung als die übrigen europäischen Länder. Ausschlaggebend ist die Frage, welche Rolle der israelisch-palästinensische Konflikt in der Beziehung zwischen dem Westen und den islamischen Ländern spielt. Es lohnte sich, gerade als Deutscher, darüber nachzudenken. Ist es den Deutschen möglich, nützlich und wichtig, eine andere Haltung dem Islam gegenüber einzunehmen? Eine kleine Schwelle müsste dabei überwunden werden, indem man sagt: Wir sind nicht nur für Israel, wir sind auch für Palästina! Wirsetzen uns für Muslime wie für Juden und Christen ein, und dafür brauchen wir eine Weltgesellschaft, in der der Westen und der Islam einen gemeinsamen Weg finden. Die Schlussfolgerung könnte also sein: Wir sind am Arabischen Frühling interessiert! Das wäre für die deutsche Diplomatie ungeheuer wichtig.
    R.M.: Kommen wir zum Schluss auf Ihre große historische Erfahrung zu sprechen. Sie überblicken ein ganzes Jahrhundert. Es gibt diesen schönen Buchtitel Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben , in dem Friedrich Nietzsche den Umgang des Menschen mit der Geschichte zum Thema macht. Was haben Sie aus der Geschichte gelernt? Was raten Sie im Umgang mit ihr?
    S.H.: Durch die Länge meines Lebens fällt mir immer mehr auf, dass sich die Veränderungen in der Weltgeschichte immer schneller ereignen. Als ich ein kleiner Junge war, waren die Fragen noch: Was gehört den Nordeuropäern und was den Südeuropäern? Welche Länder sind Demokratien und welche nicht? Wer sind die Amerikaner? Wer sind die Kommunisten? Wer sind die Faschisten? Das waren die Fragen von damals. Die Frage von heute muss lauten, wie wir eine Welt, die von globaler Ausbeutung geprägt ist, in eine sozial gerechte und nachhaltige Weltgesellschaft transformieren können. Wir müssen unsere ganze
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