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Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg
Autoren: Harry Kemelman
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an. Er hatte die wacklige Leiter aus dem Keller geholt und reichte Miriam das Pessach -Geschirr herunter, welches das Jahr hindurch im obersten Fach des Küchenschranks aufbewahrt wurde. Miriam hatte alle Hände voll zu tun. Am Samstagabend waren sie endlich so weit. Miriam streckte sich wohlig auf der Wohnzimmercouch aus, während der Rabbi mit dem kleinen Jonathan die traditionelle symbolische Suche nach dem Chomez vornahm, den Brotstückchen, die man vorher überall verteilt, um sie dann im Licht einer Kerze einzusammeln. Das Brot wird mit einer Feder auf einen Holzlöffel geschoben, der dann am nächsten Morgen mitsamt den Krumen verbrannt wird. «Ist dir Jonathan im Weg? Soll ich ihn zu mir nehmen?», rief Miriam ihrem Mann zu, ohne ernsthaft zu glauben, dass er ihr Angebot annehmen würde.
    «Aber nein … Als ich klein war, half ich auch immer meinem Vater beim Chomez -Suchen. Es macht Spaß … Weißt du zufällig, wo ich die Kerze hingelegt … Schon gut, ich hab sie.» Dann sprach er den Segen: «Gelobt seist du, Herr … Der uns befohlen, alles Gesäuerte zu entfernen …» Sein Sohn sah beim flackernden Kerzenlicht mit großen Augen zu, wie er die Brotstückchen in einen Lappen wickelte und beiseite legte. Er sagte den alten Spruch auf: «Alles Gesäuerte, das sich in meinem Besitz befindet und das ich nicht gesehen und entfernt habe, soll ungültig sein und als Staub der Erde betrachtet werden.»
    «Morgen», versprach er Jonathan, «darfst du zusehen, wie wir es verbrennen.» Er rief Miriam zu, sie solle ihn ins Bett stecken; Mr. Epstein müsse jeden Augenblick eintreffen.
     
    Der Rabbi schüttelte den Kopf. «Tut mir Leid, Mr. Epstein. Sie meinen es bestimmt gut, aber ich glaube, Sie machen einen großen Fehler.»
    «Ja, aber … Also, Rabbi, ich versteh Sie nicht! Wir müssen Jenkins mit allen Mitteln helfen! Es geht uns doch alle an. Meine Tochter hat ihn zum Picknick eingeladen, und die anderen waren alles junge Leute aus der Gemeinde …»
    «Warum brechen Sie eigentlich nicht ins Gefängnis ein und holen ihn mit Gewalt heraus?»
    «Das ist doch lächerlich, Rabbi!»
    «Richtig. Aber damit wäre ihm immerhin geholfen … Ich will damit nur sagen, dass sich nicht alle wohl gemeinten Handlungen unbedingt positiv auswirken müssen. Nun haben Sie also diesen Donohue mit seiner Verteidigung beauftragt. Ich habe schon viel von ihm gehört. Ein bekannter Anwalt … ein Staranwalt … Und jetzt erzählen Sie mir, er will beantragen, dass der Prozess vor einem auswärtigen Gericht verhandelt wird – mit der Begründung, der Junge habe in dieser Stadt kein faires Urteil zu erwarten … Ich möchte aber nicht, dass die jüdische Gemeinde in den Ruf kommt, an der Sauberkeit der hiesigen Justiz zu zweifeln; soweit mir bekannt ist, gab es in all den Jahren nie einen Anlass. Was Sie vorhaben, das wird allerdings Anlass zu etwas geben, zu der Vermutung nämlich, dass Sie von Jenkins’ Schuld überzeugt sind … Sollte er tatsächlich schuldig sein, so muss er verurteilt werden. Aber solange das nicht erwiesen ist, werde ich mich vor allem hüten, was als Präjudizierung ausgelegt werden könnte.»
    «Aber Rabbi, es ist doch eine Standardtaktik, einen Fall der Zuständigkeit eines bestimmten Gerichtes zu entziehen und …»
    «Ja, aber was Sie als Standardtaktik betrachten, könnte anderen Leuten als unfaire Taktik erscheinen … Bei Ihrem Sozialprogramm machen Sie im Grunde den gleichen Fehler, wenn ich das mal sagen darf: Sie begnügen sich nicht damit, was Sie persönlich tun können; Sie wollen durchsetzen, dass jedes Gemeindemitglied mitmachen muss. Nun enthält unsere Religion zwar einen Sittenkodex, eine Richtschnur für das Verhalten – aber es ist jedem Einzelnen anheim gegeben, diese Richtschnur nach seinem Gewissen und gemäß seiner Intelligenz auszulegen … Der eine schließt sich einem Proteststreik an, der andere wird für eine gerichtliche oder auch außergerichtliche Klärung der strittigen Fragen sein – das muss jeder für sich entscheiden. In der Synagoge überwiegt ja auch das Einzelgebet … Es steht Ihnen natürlich frei, eine Kampagne zu starten, zu Spenden aufzurufen, oder was immer Sie wollen; aber solange auch nur ein einziges Gemeindemitglied dagegen ist, haben Sie kein Recht, im Namen des Tempels zu handeln – auch wenn im Vorstand die Mehrheit dafür ist.»
     
    «Ich versteh dich nicht, David!» Miriam musste sich zusammennehmen, um nicht heftig zu werden. «Er ist mit der
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