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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Autoren: Charlotte Link
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Als ich später erneut vorsichtig nach oben spähte, waren Sie beide
verschwunden. Nur noch Ihre Tasche stand dort, außerdem war das Auto nicht gestartet worden. Ich wußte also, daß Sie noch irgendwo sein mußten. Ich beschloß, daß es mir nun egal wäre, wenn Sie mich entdeckten, durchquerte den Garten, schlug mich durch den Wald seitlich am Haus vorbei und machte mich auf den Weg nach Stanbury. Von dort wollte ich mich mit der Polizei in Verbindung setzen. Aber kurz bevor ich das Dorf erreichte …«, er zuckte mit den Schultern, »kurz bevor ich das Dorf erreichte, kehrte ich um. Weshalb? Ich hatte die ganze Zeit ein dummes Gefühl. Ich kann es nicht erklären. Eine Intuition vielleicht, eine Ahnung … Ich hatte Evelin an jenem Tag, bevor das Verbrechen geschah, ja noch im Park gesprochen, ich hatte das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung begriffen und … ja, ich hatte da noch etwas gespürt, was ich zunächst nicht benennen konnte, aber was mir plötzlich ganz klarwurde: Ich hatte gespürt, daß Evelin krank ist und daß diese Krankheit über eine bloße Depression hinausgeht. Jetzt würde ich sagen: Ich habe ihren Wahnsinn gespürt. Auf einmal war mir zutiefst unwohl bei dem Gedanken, Sie hier allein mit ihr in diesem einsamen Haus zu wissen. Ich lief den ganzen Weg zurück, und ich glaube, ich kam keine Minute zu früh. Ich sah Evelin mit dem Messer in der Hand zum Kellereingang schleichen. Sie wollte Sie dort wohl abpassen.«

Jessica merkte, wie eine Woge kleiner Kälteschauer über sie hinwegflutete. Wäre Phillip nicht gewesen, hätte Evelin direkt hinter der Tür auf sie gewartet. Gestört, wie sie war, hatte sie doch die Schritte ihrer vermeintlichen Freundin vorhersehen können.
    »Ich wäre jetzt vielleicht schon tot«, murmelte sie.
    Evelin gab leise, unverständliche Laute von sich. Es hörte sich an wie ein Singsang. Vielleicht ein Kinderlied, dachte Jessica. Vielleicht singt sie ihrem Baby, das auf so brutale Art sterben mußte, ein Lied vor.
    Sie ließ Evelins Hand los, die sofort kraftlos in ihren Schoß zurückfiel. Sie stand auf.

    »Können Sie bei ihr bleiben?« fragte sie. »Ich muß telefonieren. Ich werde Norman anrufen, und dann muß ich auch bei Evelins Psychotherapeuten Entwarnung geben.«
    »Gehen Sie nur«, sagte Phillip. »Ich bleibe bei ihr.«
     
    Mit langsamen Schritten ging sie zum Haus zurück. Ihr Hunger war verflogen, aber sie sehnte sich nach einer Dusche. Sehnte sich nach ihrem Zuhause, nach Barney, nach ihrer Praxis. Nach der Normalität. Die Frage war, ob sie sie jemals wiederfinden konnte.
    Sie nahm ihre Handtasche mit. Kramte ihr Handy hervor. Es zeigte eine ganze Reihe eingegangener Anrufe an. Wahrscheinlich Dr. Wilbert. Sie lächelte ein wenig bitter. Wilbert fühlte sich bestimmt nicht wohl in seiner Haut, aber sie beschloß, ihn erst nach ihrem Gespräch mit Superintendent Norman von seiner Besorgnis zu erlösen. Wilbert hatte es mit seiner Schweigepflicht ihrer Ansicht nach eindeutig übertrieben. Vermutlich hatte er ein Verbrechen dieses Ausmaßes nicht vorhersehen können, aber offenbar hatte er es aufgrund der Einblicke in die Psyche seiner Patientin später durchaus für möglich gehalten, daß sie als Täterin in Frage kam. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte er sich offenbaren müssen. Die Tatsache, daß er Evelin in Untersuchungshaft wußte, konnte ihn nicht freisprechen: Die Gefahr, daß man sie aus Mangel an Beweisen freilassen würde, war von Anfang an gegeben gewesen, und ein Mann wie Wilbert hätte dies einkalkulieren müssen.
    Sie fand die Karte mit Normans Nummer und trat in die dämmrige Eingangshalle, die sehr kühl wirkte nach der Hitze draußen. Als sie an der Küche vorbeikam, blieb sie stehen und blickte hinein.
    Der Kühlschrank stand weit offen, aber auch geschlossen hatte er seit Wochen seine Funktion nicht mehr erfüllt: Jemand hatte ihn abgeschaltet, vielleicht Leon, ehe sie ins Hotel gingen, oder einer von Normans Beamten. Auf der Ablage darüber, wie
auch auf dem Tisch, standen wild durcheinander die Lebensmittel, die nach dem abrupten Ende der Osterferien übriggeblieben, aber längst nicht mehr genießbar waren: geöffnete Milchtüten, Joghurtgläser, Gewürzgurken, eine Schüssel mit gekochten Nudeln, die vom bläulichen Flaum des Schimmels überzogen waren; dennoch steckte ein Löffel darin, und Evelin war offenbar dabei gewesen, sie zu verspeisen. Das gleiche mit einem Rest Schokoladenpudding, der zu krabbeln schien, er bestand
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