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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Autoren: Charlotte Link
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fast nur noch aus Maden, die sich in ihm und auf ihm gebildet hatten. Evelin hatte auch davon gegessen. Aus der Trinkschokolade, nach der Diane und Sophie verrückt gewesen waren, wuchsen Pilze, ebenso aus den verschiedenen Marmeladengläsern. Daneben ein schimmliger, knochenharter Brotkanten, den Evelin in die saure, klumpige Milch getaucht hatte, um ihn aufzulösen. Jessica betrachtete das grausige Stilleben mit Ekel, aber auch mit einem Gefühl tiefster Traurigkeit: Das ganze Elend, die Leere, die Trostlosigkeit Evelins wurde in dem Bild dieser Küche noch einmal deutlich. Sie konnte sie vor sich sehen, wie sie hier saß und in sich hineinschaufelte, was sie greifen konnte, ohne zu merken, daß sie Schimmel und Maden und Pilze verschluckte, getrieben von nichts anderem als dem Bedürfnis, das Vakuum in sich zu füllen, um zu ertragen, was ihr geschehen war. Und neben der Traurigkeit war da auch noch einmal das Erkennen der Schuld. Einer Schuld, die sie alle traf, die sie hier so viele Wochen, über so viele Jahre verteilt, mit Evelin gelebt hatten. Ohne hinzusehen, ohne irgendeine Initiative zu ergreifen.
    Auch ich, dachte Jessica, auch ich habe versagt. Ich habe mir vielleicht mehr Gedanken um sie gemacht als die anderen, aber davon hatte sie nichts. Ich bin nicht aktiv geworden. Dabei stand die Wahrheit so deutlich vor mir, wäre ich nur mutig genug gewesen, ihr ins Gesicht zu sehen.
    Sie trat ans Telefon und zögerte einen Moment: Verriet sie Evelin ein zweites Mal, wenn sie nun Superintendent Norman anrief? Aber letztlich blieb ihr nichts anderes übrig, Phillip
mußte von jeglichem Verdacht befreit werden, und Evelin brauchte Hilfe, die sie nur in einer geschlossenen Klinik finden konnte. Man würde sie kaum ins Gefängnis schicken. Wie ihre Mutter würde sie in der Psychiatrie landen, ein Opfer von Gewalt und Gleichgültigkeit.
    Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer von Superintendent Norman.
    18
    Das Telefon klingelte, als Leon gerade die Tür zu seiner Wohnung aufschloß. Es war früh am Morgen, und er fragte sich, wer wohl um diese Zeit bei ihm anrief. Er hatte, um sich fit zu halten, nicht den Aufzug benutzt, sondern war die Treppen hinaufgelaufen, in zügigem Tempo, und so war er völlig außer Atem, als er sich meldete.
    »Ja, Roth hier.«
    Gleich darauf zeigte sich Überraschung auf seinem Gesicht. »Jessica! Wie schön, daß du mich anrufst! Was? Die letzten Tage? Ich war nicht zu Hause, bin eben erst wiedergekommen. «
    Er lauschte, und sein freudiges Staunen wandelte sich in immer größere Ungläubigkeit. »Was? Evelin? Das kann doch nicht wahr sein?! Ist das denn sicher? Ich meine, dieser Bowen …«
    Er angelte sich einen Stuhl und setzte sich, weil ihn die Nachricht fast von den Füßen riß. »Ja, ja, dann muß es wohl so sein. Aber wer hätte das gedacht? Unsere gutmütige, nette Evelin mit den traurigen Augen … Wie? Also bitte, Jessica, nun versuche hier nicht Schuld umzuverteilen! Ich meine, was hätten wir denn tun sollen? Sind wir verantwortlich für das Leben anderer?«
    Er ereiferte sich langsam, es war unglaublich, daß er sich nun auch noch Vorwürfe machen lassen sollte. Seine Frau war ermordet
worden, und seine beiden Töchter. Er war Opfer, nicht Täter .
    »Hör mal, Jessica, das war verdammt noch mal die Sache von Tim und Evelin. Dann hätte sie eben zur Polizei gehen müssen. Was sollen wir denn tun, wenn sie ständig mit Ausreden kommt, was ihre Verletzungen betrifft … Ja, natürlich haben wir es gewußt, aber sie wollte doch keine Hilfe haben! Wie soll man jemandem helfen, der Hilfe ablehnt? Also, Jessica, wirklich, du bist noch nicht so lange bei uns gewesen, du hast manches nicht mitbekommen. Sie hat eisern zu Tim gestanden … Krank? Also, daß sie krank war, habe ich nicht gewußt. Ich habe auch, ehrlich gesagt, nicht von morgens bis abends über Evelin nachgedacht. Wenn sie Hilfe gewollt hätte, hätte sie kommen können und mit uns reden. Hat sie aber nicht. So. Mehr kann ich dazu nicht sagen. «
    Er lauschte wieder eine Weile, dann meinte er beschwichtigend: »Wir sollten einander jetzt nicht die Augen auskratzen, Jessica. Ich bin erleichtert, daß der Täter gefaßt ist. Wie lange bleibst du in England? … Ach so. Morgen schon. Dann melde dich doch mal, okay? Bis dann!«
    Er legte den Hörer auf, erhob sich und ging ein paarmal im Raum auf und ab. Also wirklich, Jessica mußte ein bißchen vorsichtiger sein mit ihren Anschuldigungen. Was hätte er tun
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