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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Autoren: Mary Mackey
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war längst über das Stadium hinaus, in dem sie ihm oder sonst irgend jemandem gehorchte. Beim Klang seiner Stimme begann sie, sich wie eine Besessene von einer Seite zur anderen zu werfen, während sie winselte und jammerte und aus voller Kehle um Gnade flehte. Ihr schwarzes Haar schwang vor und zurück, ihre Augen waren verdreht, so daß nur noch das Weiße zu sehen war, ihre Lippen waren blutig, wo sie in ihrer Panik ihre Zähne hineingegraben hatte. Marrah hatte einmal ein Kaninchen gesehen, das von einem Fuchs in die Enge getrieben worden war; das Kaninchen hatte geschrien, wie Akoah jetzt schrie, nur daß ihre Schreie noch unerträglicher waren, weil sie einen Sinn ergaben.
    »Laßt nicht zu, daß er mich umbringt! « flehte sie. »Bitte, laßt ihn mich nicht töten! Ich will nicht sterben. Hilf mir! Marrah, bitte hilf mir! «
    Als sie Akoahs Hilfeschreie hörte, wurde Marrah halb verrückt vor Zorn. Sie zerrte an ihren Lederfesseln, bis sie in ihre Handgelenke schnitten, aber die Fesseln hielten, und ihre Schreie wurden von dem Knebel in ihrem Mund erstickt. Es gab nichts, was sie tun konnte, außer in stummem Entsetzen zuzuschauen.
    Am Ende kam Akoahs Tod barmherzig schnell. Changar marschierte auf sie zu, schlang die Bogensehne um ihren Hals und zog heftig mit seinen Händen in entgegengesetzte Richtungen. Akoahs Kopf fiel mit einem Ruck zurück, und dann stieß sie einen letzten Laut aus, schwach und hoch wie der eines verwundeten Vogels. Dann lief ein Zittern durch ihren Körper, und sie fiel in sich zusammen, und einen Moment lang herrschte. Stille.
    Marrah schloß die Augen. Sie weinte, aber sie bemerkte ihre eigenen Tränen kaum. Das Gefühl des Elends und des Kummers in ihrem Innern war so übermächtig, daß es alles andere verschluckte, sogar ihre Angst. Möge ihre Seele Frieden finden, dachte sie. Möge Akoah bei der Erdenmutter ruhen. Sie dachte an Hoza und den Mutterschoß der Stille, an die Gebeine ihrer Vorfahren und Mutter Ashas Segen. Dann dachte sie an Zuhans feuchtkaltes Grab, und die nackte Panik ergriff erneut von ihr Besitz. Bald würde sie Akoahs Körper auf die Steine aufprallen hören, und kurz danach würde sie selbst an die Reihe kommen.
    Entschlossen, sich wenigstens ihrem eigenen Tod tapfer zu stellen, öffnete Marrah die Augen und entdeckte zu ihrer Überraschung, daß Changar immer noch nicht das Zeichen gegeben hatte, Akoah loszuschneiden. Er stand neben der Toten und betrachtete sie auf seltsame Art, als empfände er vielleicht Bedauern. Er runzelte die Stirn und blinzelte wie irgendein Nachttier, das sich ins helle Tageslicht hinausgewagt hatte. Ein Krieger stand in respektvoller Entfernung, den Dolch in der Hand, und wartete auf das Signal, Akoah den anderen nachzuschicken, doch das Signal kam nicht. Weitere Minuten verstrichen, und noch immer stand Changar neben Akoah, ohne sich zu rühren.
    Seltsame Dinge gingen vor.
    Die Nomaden begannen zu tuscheln. Die Trommler hielten inne, die Frauen hörten zu singen auf, die Krieger hörten auf, mit ihren Speeren auf den Boden zu stampfen, und alle warteten darauf, daß Changar mit der Zeremonie fortfuhr. Schließlich, als klar war, daß er das Zeichen nicht geben würde, erhob sich Vlahan auf die Füße. Als er aufstand, fuhr der Wind unter seinen weißen Umhang und bauschte ihn wie ein Segel auf. Er sah grimmig und herrschsüchtig aus, jeder Zoll ein Großer Häuptling, von seinem roten Bart bis zu den Spitzen seiner Lederstiefel, aber in seinen Augen lag ein sonderbarer Ausdruck, den Marrah niemals in all den Wochen gesehen hatte, als sie gezwungen gewesen war, sein Bett zu teilen. Es war nicht direkt Furcht, eher Unsicherheit. Vlahan blinzelte ein paarmal und zwinkerte wie ein Mann, der ein irritierendes Sandkörnchen im Auge fühlt. Sicherlich wollte er etwas sagen, aber Marrah erfuhr niemals, was es war, denn in dem Moment, als er den Mund öffnete, stieß Changar plötzlich ein Gebrüll wie ein wildgewordener Bulle aus. »Hilfe!« schrie er.
    Beim Klang des Wortes warfen die Trommler ihre Trommeln beiseite und sprangen auf die Füße. Einige Augenblicke lang war alles ein einziges Chaos, während Krieger hastig nach ihren Dolchen griffen, Frauen kreischten und Kinder ängstlich aufschrien. Aber bevor jemand Changar zu Hilfe eilen konnte, geschah etwas Erstaunliches. Der Wahrsager wandte sein Gesicht der untergehenden Sonne zu und blickte blinzelnd zu den blutroten Wolken hinauf. Ganz plötzlich schlug er sich die Hände vors
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