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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Autoren: Mary Mackey
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hinaus, um ihre Kindheitshalskette zurück ins Wasser zu werfen und dann eine Weile dort zu sitzen, um zu beten und zu meditieren. Aber zuerst, dachte Marrah, müssen die Vögel kommen und mir die Erlaubnis geben, denn die Vögel sind das Zeichen, daß die Göttin Xori den Menschen gnädig gesonnen ist, und ohne sie ist jeder zum Scheitern verurteilt.
    Die Stille dauerte eine ganze Weile, während alle Dorfbewohner schweigend dastanden und auf ein Zeichen warteten. Und dann, endlich, ertönte es: das schrille Schreien einer Seemöwe, Marrahs Namensvetterin, das bestmögliche Omen! Und wie eine zusätzliche Segnung flog ein Kormoran vorbei. Beim Anblick seines langen Schnabels und der metallisch braunen Schwingen ging ein Murmeln der Befriedigung durch die Menge. Kormorane konnten ihre Flügel auch unter Wasser benutzen; welches bessere Zeichen für die Harmonie zwischen Xori und Amonah konnte es denn noch geben?
    Die Musik und der Lärm setzten an der Stelle wieder ein, wo sie abgebrochen hatten. Als die Trommler einander zuriefen und neue Rhythmen anschlugen, traten Urgroßmutter Amas drei jüngste Enkelkinder vor; Hatza, ein rundlicher, freundlich aussehender Mann Anfang Zwanzig, der einer der besten Köche des Dorfes war, und die Zwillinge, Belaun und Hanka, die mit Onkel Seme auf Fischfang gingen. Die drei trugen Hanka und Belauns Boot, einen massiven Einbaum, an dessen Bug das Bildnis von Amonah eingeschnitzt war. Die Göttin hatte den Körper eines Fisches und das Gesicht einer Frau, und kein Seemann wäre auf die Idee gekommen, ohne Sie aufs Meer hinauszufahren.
    »Steig ein«, sagte Hanka, als sie Marrah eines der hölzernen Paddel reichte. »Ich glaube, du weißt inzwischen, wie man diese Boote steuert.« Bei der Bemerkung lachten alle, denn als Marrah ein kleines Mädchen von knapp fünf Jahren gewesen war, war sie in genau dieses Boot geklettert, war vom Strand weggerudert und schon fast außer Sichtweite abgetrieben, bevor Sabalah sie entdeckt und Alarm ausgelöst hatte.
    Marrah stieg in den Einbaum und machte es sich darin bequem. Als Hanka und Belaun sie ins Wasser schoben, bewarf die Menschenmenge sie mit weißen Blumen, bis sie auf einem Teppich von Blüten dahintrieb.
    »Komm so schnell zurück, wie du kannst«, riefen ihr die Kinder nach.
    »Warum? Werdet ihr mich vermissen?«
    Die Kinder lachten nur und warfen mehr Blumen. »Beeil dich«, drängten sie.
    »Es ist wegen des Festessens«, erklärte Hanka. »Sie dürfen es nicht anrühren, bis du zurück bist.«
    »Richtig«, rief Arang. »Wir warten auf den Pudding und die Honigkuchen! Kannst du sie nicht riechen, Schwester?«
    Und ob Marrah die köstlichen Düfte riechen konnte! Tatsächlich ließ der Duft der Honigkuchen ihren Magen vernehmlich knurren, aber ihre neugefundene Würde verlangte, daß sie langsam zur Insel paddelte, als wäre der Festschmaus das letzte, was sie zur Zeit beschäftigte.
    Es war eine kurze Fahrt, aber eine aufregende – obwohl die Aufregung eher in Marrahs Kopf herrschte. Das Meer war ungewöhnlich glatt und ruhig, der Himmel klar und wolkenlos, das Wasser so blau wie eine Halskette aus Lapislazuli, aber mit jedem Schlag ihres Paddels hatte sie das Gefühl, mehr zur Frau zu werden. Niemals mehr würden ihre Mutter oder Onkel Seme am Strand stehen und sie zurückrufen. Dies war ihr Meer, ihr Boot, ihr Himmel, und sie konnte fahren, wohin sie wollte, sogar über den Rand des Horizonts hinwegrudern und weiter, immer weiter bis zum Ende der Welt, wenn ihr der Sinn danach stand.
    Als sie die Insel erreicht hatte, zog sie den Einbaum an einem Stück geflochtener Schnur auf einen Felsen, band ihre Kindheitshalskette an einen Zipfel ihres Rocks, damit sie die Hände frei hatte, und watete ans Ufer. Suchend blickte sie sich um, in der Hoffnung, ein paar Seehunde zu sehen, aber es waren leider keine der grauen, munteren Tiere in Sicht. Leicht enttäuscht begann sie, vorsichtig auf die schlüpfrigen Felsen zu klettern. Auf der Seeseite gab es eine flache, ebene Stelle – nicht direkt ein Strand, das nicht, denn Sand konnte sich auf der Insel nicht halten, die rauhen Winterstürme würden ihn unweigerlich fortwehen –, sondern mehr ein glatter Vorsprung, der ins Wasser hinausragte. Dort, allein und mit dem Blick aufs Meer, würde sie ein Gebet sprechen und ihre Halskette Amonah zuwerfen.
    Der Aufstieg war steil, und der schmale Leinenrock behinderte Marrah. Bald blieb sie stehen und steckte den Saum in ihren Gürtel. Sie war so
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