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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Autoren: Mary Mackey
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–, der Aita des Kindes zu sein. Manchmal, wenn sie einen festen Partner hatte, konnte sie auch ihm die Ehre übertragen.
    Die Pflichten eines Aita waren heilig und wurden in der Tat sehr ernst genommen; ein Mann galt nicht wirklich als erwachsener Mann, bis er die Verantwortung für ein Kind übernommen hatte.
    Onkel Seme war Urgroßmutter Amas jüngster Sohn, und Sabalah hatte ihn wenige Monate nach dem Tag erwählt, als sie mit Marrah in ihren Armen in dem Dorf angekommen war. Er war Fischer, groß und mit einem breiten, gewölbten Brustkasten, einem buschigen Bart und kräftigen Muskeln, aber was Sabalah damals beeindruckt hatte, waren sein ausgeglichenes Wesen und seine Freundlichkeit. Jetzt, obwohl er erst Anfang Dreißig war, wirkte sein Gesicht so wettergegerbt wie ein Stück abgetragenes Leder, und er schielte leicht, da er zu lange in die gleißende Sonne auf dem Wasser geblickt hatte, aber trotz seines rauhen Äußeren hatte er einen Hang zur Sentimentalität.
    Als Seme Marrah auf die Plattform half, füllten sich seine Augen mit Tränen, obwohl er nicht genau hätte sagen können, warum, falls ihn irgend jemand gefragt hätte. Teilweise war es Stolz, der ihm Tränen der Rührung in die Augen trieb – denn wer hatte schon jemals ein schöneres und klügeres Kind gehabt? Und teilweise war es Wehmut, denn wenn das Mädchen, das zu umsorgen man geschworen hatte, eine Frau wurde, dann wußte man, daß die eigene Kraft im Schwinden war.
    »Möge sie dich segnen«, flüsterte er Marrah rauh zu, dann reichte er sie an Sabalah und Ama weiter.
    Die eigentliche Zeremonie dauerte nur wenige Minuten. Bedächtig zog Ama eine kleine, doppelschneidige Feuersteinaxt aus ihrem Medizinbeutel, schnitt die Lederschnur von Marrahs Kindheitskette durch und übergab sie ihr. Dann kniete Sabalah vor ihr nieder und reichte ihr eine Tonschale mit bitterem Kräutertee, der mit Honig gesüßt war. Die Kräuter waren die gleichen, die sie von jetzt an jeden Monat trinken würde, denn obwohl Mädchen offiziell mit dreizehn zur Frau wurden, empfingen sie gewöhnlich keine Kinder, bis sie mindestens sechzehn Jahre alt waren, von einigen Ausnahmen abgesehen.
    Marrah nahm den Tee an und trank in tiefen Zügen. Als sie den Kopf hob, nahm Sabalah die Schale aus ihren Händen, und gemeinsam zerschlugen sie sie auf einem großen, flachen Stein. Die Menge jubelte, und gleich darauf begannen die Trommeln und Pfeifen zu spielen.
    »Seht eine neue Frau!« rief Ama den Leuten von Xori zu, und damit war Marrah, Tochter von Sabalah, nicht länger ein Kind.
     

2. KAPITEL
    Marrah strebte in Richtung Meer, mit der Halskette ihrer Kindheit in der Hand. Hinter ihr folgten die Trommler und Flötenspieler, die jungen Männer und Frauen, die Körbe mit weißen Blumen trugen, die Unmengen von Verwandten und Freunden und die Kinder, die schubsten und drängelten und förmlich übereinander stolperten, um nur ja nichts zu verpassen.
    Dieser Gang zum Meer hatte nichts Organisiertes an sich, nichts feierlich Ernstes, obwohl der Tag der Volljährigkeit der wichtigste Augenblick im Leben eines Mädchens war. Wie fast alle religiösen Feste in Xori, so war auch dieses lärmend und chaotisch, eine buntgemischte Prozession von aufgeregt bellenden Hunden, Müttern mit Kindern auf der Hüfte, von alten Männern, die die Tänze ihrer Jugend tanzten, und jungen Leuten, die fröhlich lachten und schwatzten.
    Als Marrahs nackte Füße den steinigen Strand berührten, brach der Lärm abrupt ab, und eine plötzliche Stille breitete sich aus, denn dies war der Moment, in dem sie aus der Obhut der Vogelgöttin in die der Meeresgöttin überwechselte. Die Stille war so tief, daß Marrah das Plätschern der Wellen am anderen Ende der kleinen Felseninsel hören konnte, die in einiger Entfernung im Meer lag. Es war kein lautes Geräusch, sondern erinnerte eher an sanftes Ein-und Ausatmen, doch als Marrah es hörte, war ihr zumute, als riefe die Göttin Amonah selbst nach ihr.
    Die Insel war nur ein riesiger Felsblock aus zerklüftetem, weißem Granit, aber alle im Dorf betrachteten sie als einen besonderen Glücksort. Graue Seehunde kamen manchmal, um sich auf ihren Felsen zu sonnen, die besten Fische wurden in ihren Gewässern gefangen, und kostbare Stücke Feuerstein fanden sich oft an ihren Ufern. Aus diesen Gründen, und vielleicht noch aus anderen, war die Insel speziell der Meeresgöttin geweiht, und jedes Mädchen, das die Volljährigkeit erreicht hatte, fuhr allein dort
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