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Als Musik meine Sprache wurde - Die offizielle Autobiografie (German Edition)

Als Musik meine Sprache wurde - Die offizielle Autobiografie (German Edition)

Titel: Als Musik meine Sprache wurde - Die offizielle Autobiografie (German Edition)
Autoren: Unheilig
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anging – das Gerät selbst hielt bis ins Jahr 2009, insofern hatte er damals eine weitsichtige, gute Wahl getroffen.
    Ich hatte den Videorekorder gewissermaßen als Musikarchiv für mich entdeckt. Musste ich mir zuvor die Filmmusiken einprägen, um sie später nachspielen zu können, war ich mit dem Videorekorder in der Lage, meine Lieblingssoundtracks immer und immer wieder zu hören und sie noch exakter zu studieren.
    Da ich durch meine Sprachstörung Schwierigkeiten hatte, mich mitzuteilen, begann ich schon sehr früh damit, all meine Gedanken und Emotionen in meine Stücke einzubringen. Die Musik war mein wichtigstes Kommunikationsmittel geworden. Wenn ich Ängste hatte, Probleme und Sorgen oder mich nicht gut fühlte, aber auch, wenn ich einfach nur glücklich war, schrieb ich ein Instrumentalstück darüber. Im Grunde verarbeitete ich meine Gedanken und Ängste in Liedern und fühlte mich danach einfach besser. Und das könnte in der Nachbetrachtung auch der Grund sein, warum ich zu dieser Zeit immer selbstsicherer wurde und aus der Musik so viel Kraft ziehen konnte, um mit allem, was mich umgab, klarzukommen. Und irgendwann – ohne einen besonderen Grund – fing ich wieder damit an, zu Hause zu sprechen.
    Ohne große Ankündigung, so erzählte es mir meine Mutter später, habe ich damals begonnen, über meine Musik zu reden. Wie toll sie doch sei und wie viel Spaß mir das alles machen würde, und das Stottern war mit einem Mal kein großes Thema mehr. Im Schutz meines Elternhauses zumindest …
    In der Schule stand ich noch immer unter großem Druck. Während ich es über meine sportlichen Leistungen geschafft hatte, mir den Respekt meiner Mitschüler gleichsam zu erlaufen, traf mich von anderer Seite der nächste Tiefschlag: Ich bekam eine Brille. Nun war ich in der Schulwelt also auch noch die »Brillenschlange« – als hätte die Stotterei nicht ausgereicht. Ausgestattet mit einem dieser berühmt-berüchtigten großformatigen Kassengestellen, ging ich stimmungsmäßig also zurück auf Los.
    In meiner Realschule war es damals erlaubt, Kunst und Musik als Hauptfächer zu wählen, was mich im Grunde über Nacht zu einem richtig guten Schüler machte. Im Musikunterricht durfte ich ständig vorspielen und in Kunst konnte ich mit meinen Zeichnungen regelmäßig hoch punkten – vieler Worte bedurfte es in beiden Fächern naturgemäß nicht. Durch diese beiden Wahlfächer war ich überdies vornehmlich mit musisch ambitionierten Kindern zusammen, was den Umgangston in der Klasse doch deutlich positiv beeinflusste.
    Gleichwohl war ich selbstverständlich auch dort nicht vor Spott und Hohn gefeit, wenn ich mal wieder ins Stocken geriet. Aus diesem Sog herausgezogen hatte mich am Ende eine Geschichtslehrerin, die auf meiner Schule von allen Kindern gehasst wurde. Eine strenge ältere Dame, die gnadenlos ihren Unterricht durchzog – ohne Rücksicht auf Verluste. Was diese Frau jedoch am meisten aufbrachte, war Ungerechtigkeit. Diese Lehrerin war mit größter Bestimmtheit nicht auf meiner Seite – vermutlich mochte sie mich so wenig wie all die ande ren Schüler –, aber sie setzte sich mit allem Nachdruck dafür ein, dass ich fair behandelt wurde. Wer in ihren Stunden glaubte, er müsse sich über mein Stottern lustig machen, bekam richtig Ärger. Damit bereitete sie mir in ihren Stunden die Freiräume, die ich so dringend brauchte, um meine Ängste, vor anderen zu sprechen, endlich zu überwinden.
    Alle anderen Lehrer reagierten eher hilflos auf meine Sprachstörung. Zum einen ließen sie den Spott der anderen zu und sie quittierten überdies meine fehlende mündliche Teilnahme mit schlechten Noten. Eine Form der Strafe, die ich nicht verstehen konnte. Ich fragte mich damals häufig – und das tue ich heute noch –, ob man auch Kindern im Rollstuhl schlechte Sportnoten geben würde, weil sie die 100 Meter nicht laufen konnten …
    Diese Geschichtslehrerin jedenfalls hielt mir in ihren Stunden gewissermaßen den Rücken frei und ließ mir alle Zeit, die ich brauchte, um meine Beiträge im Unterricht abzugeben. Und sie gab mir den wichtigsten Rückhalt, den ich zu jener Zeit so sehr vermisste: Sie glaubte daran, dass ich es könne!
    Und mit einem Mal klappte es auch in der Schule. Die Fesseln waren gelöst – der Bann gebrochen. Ich hatte mich mit der Hilfe dieser Lehrerin freigeschwommen und war plötzlich in der Lage, einigermaßen störungsfrei vor allen anderen zu reden.
    Dazu kam das
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