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Als der Meister starb

Als der Meister starb

Titel: Als der Meister starb
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ich verstehe es nicht«, murmelte ich hilflos.
    »Das kannst du auch nicht, Junge«, antwortete Montague sanft. »Aber ich brauche trotzdem deine Hilfe. Das, was dort oben an Deck geschehen ist, war nur eine Warnung. Ich fürchte, der eigentliche Angriff steht uns noch bevor. Und ich weiß nicht, ob ich allein stark genug bin, ihn abzuwehren.«
    »Angriff? Aber wer sollte …?«
    »Ich habe Feinde, Robert«, sagte er leise. »Mächtige Feinde. Ich fürchte, sie sind noch mächtiger, als ich bisher geglaubt habe.«
    »Die, vor denen Sie aus New York geflohen sind?«
    »Du weißt davon?«
    Ich nickte. »Es ist nicht sehr schwer zu erkennen, wenn ein Mann Angst hat«, sagte ich. »Ich habe es gleich gespürt.«
    In seinen Augen erschien ein Ausdruck, der mich noch weiter verwirrte. Es schien, als freue er sich über das, was er soeben gehört hatte. Aber er wurde übergangslos wieder ernst. »Vielleicht finde ich später Zeit, es dir zu erklären, Robert«, fuhr er fort. »Jetzt muss das Wenige, das du ohnehin weißt, genügen. Ich werde verfolgt, und ich fürchte, ich habe auch dein und das Leben der Männer an Bord dieses Schiffes in Gefahr gebracht. Das Wesen, das du gesehen hast und das den Matrosen getötet hat, wird nicht eher ruhen, bis es seinen Auftrag erfüllt hat.« Er seufzte, wandte sich um und griff in die Kiste. Als seine Hand durch die graue Staubdecke stieß, schien eine rasche Wellenbewegung durch den Schleier zu laufen, als wäre er flüssig. Aber seine Haut war trocken, als er die Hand wieder zurückzog.
    Auf seiner Handfläche lag ein winziges Medaillon. Seine Form erinnerte vage an einen fünfeckigen Stern, war aber gleichzeitig ganz, ganz anders. Ich hatte nie etwas Derartiges gesehen. Es war, als entzöge sich das Medaillon auf magische Weise jedem Versuch, es genau zu betrachten. Das einzig klar Erkennbare an ihm war ein daumennagelgroßer, blutroter Stein, der wie ein starres Auge in seinem Zentrum eingebettet war.
    »Nimm es«, sagte Montague. »Nimm es und trage es bei dir, bis alles vorbei ist. Es wird dich beschützen.«
    Gehorsam streckte ich die Hand aus und nahm das kleine Schmuckstück entgegen. Es war erstaunlich schwer, und als ich es genauer betrachtete und ins Licht hielt, sah ich, dass es aus purem Gold geformt war. Es fühlte sich warm an; warm und auf unbestimmte Weise weich, lebendig.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    Montague beugte sich wieder über seine Kiste und kramte in ihrem Inhalt herum, ohne dass ich genau erkennen konnte, was er tat. »Ein Talisman«, antwortete er. »Aber auch eine Waffe. Vielleicht die einzige, die uns vor dem Wesen, gegen das wir kämpfen werden, schützt.« Er richtete sich auf und klappte den Kistendeckel zu. Als er sich umdrehte, entdeckte ich eine dünne goldene Kette um seinen Hals. An ihrem Ende hing ein fünfeckiger goldener Stern; ein genaues Ebenbild des kleinen Talismanes, den ich in der Hand hielt, nur etwa dreimal so groß.
    Aber das war nicht die einzige Veränderung, die mit ihm vonstatten gegangen war. Zum ersten Mal seit Wochen war Randolph Montague wieder der Mann, als den ich ihn vor sechs Monaten in New York kennen gelernt hatte. Die tiefen Linien, die die Krankheit in sein Antlitz gegraben hatte, waren verschwunden, seine Haut hatte sich geglättet und wie von Zauberhand wieder einen gesunden, beinahe frischen Farbton angenommen, und auch seine Haltung wirkte deutlich straffer und kraftvoller als noch vor Augenblicken. Und er strahlte Kraft aus. Eine Kraft, die seine Gestalt wie eine unsichtbare Aura umgab.
    »Großer Gott!«, entfuhr es mir. »Was … wie haben Sie das gemacht? Das … das grenzt an Zauberei!«
    Montagues Lächeln wurde ein ganz kleines bisschen spöttischer, als er auf mich zutrat und mich am Arm berührte. »Es grenzt nicht nur an Zauberei, Robert«, sagte er leise. »Es ist Zauberei – wenigstens würdest du es so nennen, wenn du es verstehen könntest.« Und plötzlich wurde er ernst. Sehr ernst. Der Blick seiner Augen war mit einem Male wie Eis. »Ich hätte es dir gern auf andere Weise erklärt, Junge«, sagte er. »Aber ich fürchte, du wirst alles sehr viel schneller lernen müssen, als gut ist. Mein Name ist nicht Randolph Montague, Robert. Ich bin Roderick Andara. Der Hexer.«
    »Der Hexer!« Ich wusste, dass er die Wahrheit sprach, aber es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich diese Gabe verfluchte. Ich hätte in diesem Moment alles darum gegeben, die Augen verschließen und seine letzten Worte
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