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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally
Autoren: Arno Geiger
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diesmal war die Unordnung so umfassend, dass es schien, kein Aufräumen könne je imstande sein, die Verwüstungen wiedergutzumachen.
    »Ich bin regelrecht versucht, mich für dieses Drunter und Drüber zu entschuldigen«, sagte Sally.
    Am schlimmsten war es gewesen, als Alfred mit den Kindern die Eisenbahnanlage in Spur 0 gebaut hatte, mit entsprechend großem Rollmaterial, überall Drähte, Lötkolben, offene Tiegel, fliegende Funken und Flecken im Teppich. Daran dachte Sally. Die Strecke hatte im Wohnzimmer bei der Terrassentür begonnen, entlang der Längsseite nach Süden geführt und dort das große, dreiflügelige Fenster blockiert, das man nicht mehr öffnen und auch nicht mehr putzen konnte. Dann hatten sich die Schienen in einer eleganten Kurve zur Schmalseite des Zimmers geschwungen, dort zum großen Teil Zugang und Zugriff zum Bücherregal verunmöglicht, ehe am Ende des Bücherregals die Wand zum Esszimmer mittels Tunnel durchbrochen worden war. Hierzu hatte Alfred einen professionellen Maurer zugezogen, der ihn anfangs, begreiflicherweise, für leicht deppert gehalten hatte. Aber mit Fortschreiten der Arbeit hatte auch der Maurer Gefallen an dem Auftrag gefunden, bis er am Abend stolz gewesen war auf den ersten Tunneldurchstich seiner beruflichen Karriere. DieStrecke hatte durch den Tunnel ins Esszimmer geführt, im Esszimmer die Wand und die ganze Fensterfront entlang mit denselben Effekten wie im Wohnzimmer. Alfred und die Kinder hatten einen weiteren Durchstich in die Küche erwogen, der dann im Wandschrank enden und ein perfektes Service per Schiene hätte garantieren sollen. Doch Sally, die lange genug zähneknirschend die tolerante Ehefrau und Mutter gespielt hatte, legte ihr Veto ein mit einem legendären Satz, der alles verhöhnte, was ihr heilig war.
    »Die Küche gehört mir!«
    Spätestens damals hatte sie begriffen, dass Wohnen etwas Emotionales ist und dass sie mit ihren Gefühlen weit weniger links stand als ideologisch. Von da an hatte sie gewusst, Gefühle sind konservativ, sie verändern nicht die Welt.
    Und jetzt sagte sie:
    »Ich ärgere mich, dass ich vor dem Urlaub aufgeräumt habe. Es wäre besser gewesen, ich hätte eine tote Katze in eines der Zimmer geworfen.«
    Gesagt, ging sie hinaus auf den Flur, der Flur machte seit jeher einen eher trüben Eindruck, weil er zu eng war. Am Treppenabsatz lagen wie schon beim Hereinkommen Kehrblech und Handfeger. Sally stieg darüber hinweg, um ins obere Stockwerk vorzurücken. Von dort strömte ein schwerer Geruch die Treppe herab, bestürzend vertraut, ohne dass Sally ihn einzuordnen vermochte. Der Geruch wurde stärker, je höher Sally stieg. Im Badezimmer fand sie den Ursprung, einen zwanzig Jahre alten Flakon mit Passionsblumenöl, der zerbrochen am Boden lag. Schade drum.Sally wendete sich Richtung Schlafzimmer. Nadja warnte sie vor, sie habe mit dem Aufräumen in der Küche angefangen, sie habe sich gesagt, dass ihr Geschlecht sie dort am ehesten berechtige, die Schränke zu öffnen, aber Finger weg vom Schlafzimmer!
    Tatsächlich war es im Schlafzimmer beinahe unmöglich, einen Schritt zu tun oder einen Überblick zu gewinnen – nicht über den Schaden, sondern über den Horror. Hier befand sich der innerste Bezirk des Schreckens, in diesem tobenden Tumult befiel einen das Bedürfnis, sich an etwas Stabilem festzuhalten. Doch Stabiles schien es nicht mehr zu geben. Auch nichts Intimes mehr.
    Sally arbeitete sich durch die Kleiderberge, von Gegenstand zu Gegenstand, dabei verästelte sich das Entsetzen in immer subtilere Empfindungen. Es dauerte bestimmt fünf Minuten, bis sich ihr Puls wieder beruhigt hatte. Und immer, wenn Sally glaubte, sich mit der Katastrophe ein wenig abgefunden zu haben, tauchte etwas Neues auf, groß oder klein, und alle Wunden öffneten sich wieder, alle auf einmal.
    Die Ledertasche, die Sally von Alfred vergangene Weihnachten bekommen hatte: aus der Inventarliste gestrichen. Ebenso Alfreds Manschettenknöpfe (von Emma), Sallys Ohrringe (von den Kindern), die Uhr von Alfreds Vater und auch die Uhr, die Sally von ihrer Mutter zur Volljährigkeit bekommen hatte, mühsam erspart von dem wenigen, was Risa in London als Haushälterin verdient hatte. Erstaunlicherweise fehlte auch die einzige Postkarte, die Alfred jemals an Sally geschickt hatte, 1981 aus Argentinien, ein Gegenstand ohne jeden Wert oder von lediglich einigenCents. Und umso sinnloser, dass sie weggekommen war, und umso schlimmer der psychologische
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