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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen
Autoren: Juli Zeh
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Felswände hinauf. Nicht selten hält eine multiethnische Schaf-Kuh-Ziegen-Herde den ganzen Verkehr auf.
    Ihr seht: Kaum ist der Regen vorbei, sind alle zur Stelle, hier im Canyon unter den zerrissenen Häusern, in denen einsame Hündinnen ihre verlorene Brut mit Abfällen nähren. Und ihr, Schnecken B-Lands, ihr werdet zerquetscht. Wie Haselnüsse im Herbst krachen eure Häuser unter Füßen, Reifen, Pfoten, Hufen.
    Nach dem Regen stehe ich zwischen euren zerlaufenen Leichen auf dem Asphalt, betrachte die schroffen grüngrauen Berge und die Schwermut von Himmel und Fels, die nur in B-Land so jäh an menschengrelle Überfüllung grenzt, und stelle mir vor, wie ihr glücklich zwischen feuchten Halmen kriechen würdet, über duftendes Moos und blanken Stein, wenn euch der Regen nicht aufs Pflaster gelockt hätte, hervor aus dem Gebüsch, wo jedes schmackhafte Blatt, jedes Gewürz und jede Blüte euch ganz allein gehört.
    Ungestört werden eure Mahlzeiten bleiben, gut hundert Jahre lang. Ungestört werdet ihr leben, wenn ihr bleibt, wo ihr hingehört, im Gras, wo ihr eure Häuser klein, leicht und langsam über die Sprengköpfe der Tretminen tragt. Die Straßenränder B-Lands sind die Grenzen eures unermesslichen Reichs. Bleibt doch den Wegen fern. Eure Welt ist groß, so viel größer als unsere.
    Fluss: Bach
    »Wie heißt der berühmteste Fluss in Deutschland?«
    »Rhein«, rate ich.
    Sie lacht, den Kopf in den Nacken gelegt, der Mund eine Schale für Sommerluft und Sonnenlicht.
    »Nee«, ruft sie. »Bach!«
    Erst verstehe ich den Witz nicht, dann finde ich ihn nicht besonders lustig.
    Sie behauptet, Silvia zu heißen, ich habe behauptet, aus Polen zu kommen. Sie singt die deutschen Vokale, lächelt bei jedem E und rollt ein fleischiges R. Ich zische Konsonanten, verwechsele ab und zu Artikel und verwende Infinitive, wo sie nicht hingehören. Manchmal erfährt man mehr über die Welt, wenn man nicht zugibt, aus Deutschland zu sein. Silvia hat mich in ihrem Garten gefunden, bis über die Hüften zwischen trockenen Tomatenpflanzen stehend, in die Luft starrend, als gäbe es etwas zu entdecken, dort oben im Himmel über Buna an der Buna. Ich hatte vor, ein Stück Gemüse gegen den Durst zu stehlen. Aber das Gemüse ist schrumplig und braun, und dann trat Silvia aus dem Haus.
    »Was ist los«, fragt sie, »weißt du nicht, wer Bach war? Du bist doch Deutsche.« Man sieht es wohl an den Klamotten und an der Frisur.
    Der Weg nach Mostar, wo es eine neue Alte Brücke zu sehen geben soll, besteht aus Schotterpisten, die sich in Farbe und Konsistenz kaum vom Rest des Geländes unterscheiden und nach einigen Kilometern vor den gestiefelten Füßen des immer gleichen Mannes enden, der Hände und Kinn auf den Stiel einer Schaufel stützt. Er schlägt eine neue Himmelsrichtung vor und winkt zum Abschied. Die Soldaten im Lager sind aus Algerien und wissen nicht, wo Mostar ist. Auch das Wort »Bosnia« haben sie noch nie gehört. Deshalb bin ich wieder in Buna.
    Aber Silvia will nicht wissen, wie ich in ihren Garten gekommen bin. Sie will, dass wir gemeinsam den Bach besichtigen. Die Strömung ist stark, obwohl das Wasser nur knöchelhoch über die Kiesbänke fließt. An einer tiefen Stelle spielen Kinder mit einem quadratischen Holzfloß, auf dem ein bellender Schäferhund steht. Nach zwei Minuten mit hochgezogenen Hosenbeinen im Wasser schmerzen die Füße vor Kälte, obwohl die Lufttemperatur zweiundvierzig Grad beträgt.
    Dahinten, nur fünf Minuten flussaufwärts, kommt die Buna aus dem Fels. Silvia zeigt immer wieder, als müsste ich die Stelle hinter Kirche, Dorf und Wald erkennen können, wenn ich mir nur endlich die Mühe machte, genau hinzusehen. Die Buna fließt mitten durch den Berg, der wahrscheinlich auch Buna heißt. Da oben auf dem Hochplateau, weiß Silvia, weidete vor fünfhundert Jahren ein junger Mann die riesige Schafherde des Königs. Jeden Sonntag warf er eins der Tiere in eine Felsspalte, in der es geräuschlos verschwand. Zwanzig Minuten später trieb das Schaf ertrunken am Haus seines Vaters vorbei. Sie brieten es und aßen die ganze Woche davon. Als der König von den Diebstählen erfuhr, schickte er seine Männer aus, und eines Sonntags zog der Vater seinen Sohn aus dem Fluss und begrub ihn, hier, genau hier, zeigt Silvia, wo jetzt die Trauerweide steht, von deren Schatten du profitierst. Sie lacht wieder.
    »Habt ihr auch Legenden in Deutschland?«
    »Viele Legenden«, sage ich vorsichtig.
    »Meinem
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