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Aller Heiligen Fluch

Aller Heiligen Fluch

Titel: Aller Heiligen Fluch
Autoren: Elly Griffiths
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grinst sie aus dem Dämmerlicht an. Ruth, die eine Schwäche für Pferde hat, lächelt mitfühlend zurück und eilt weiter.
    Am Ende der Galerie hat sie statt Fliesen plötzlich Teppich unter den Füßen und stellt überrascht fest, dass sie sich in einem rot tapezierten viktorianischen Schreibzimmer befindet. Über einem aufgemalten Kamin hängt ein Hirschkopf, und am Schreibtisch sitzt ein Mann, der mit missbilligend gerunzelter Stirn seine Feder ins Tintenfass taucht.
    «Oh, Verzeihung …», sagt Ruth und merkt erst dann, dass die Augen des Mannes verstaubt sind und ihm ein Arm fehlt. Ein Absperrseil trennt sie von der Puppe an ihrem Schreibtisch, doch Ruth beugt sich darüber, um die Hinweistafel zu lesen:
    Lord Percival Smith,
1830

1902
, Abenteurer und Tierpräparator. Die meisten Exponate des Museums wurden von Lord Smith im Lauf seines ereignisreichen Lebens selbst erworben. Seine Liebe zur Welt der Natur offenbart sich in seiner großartigen Sammlung von Tieren und Vögeln, die er größtenteils eigenhändig geschossen und ausgestopft hat.
    Eigenartige Methode, seine Liebe zur Welt der Natur zu zeigen, indem man auf sie schießt. Ruth registriert die beiden Gewehre, die über der Wachsfigur von Lord Smith an der Wand hängen. Lebendig oder tot, mit dem ist nicht zu spaßen.
    Zwei Wege führen aus Lord Smiths Studierzimmer heraus. Über dem einen steht «Sammlung Neue Welt», über dem anderen «Lokalgeschichte». Ruth zögert, fühlt sich ein bisschen wie Alice im Wunderland. Ein leises Geräusch, wie ein Flüstern oder Flattern, lockt sie schließlich zur Lokalgeschichte. Eine tröstliche Sammlung von Kunstgegenständen aus Norfolk, genau das braucht sie jetzt. Sie kann nur hoffen, dass dort keine Wachsfiguren und ausgestopften Tiere mehr warten.
    Der Wunsch wird ihr erfüllt. Der Saal für Lokalgeschichte ist weitgehend leer, bis auf einen Sarg auf einem aufgebockten Tisch. Neben dem Sarg, auf dem Boden, liegt ein Mann. Durchs offene Fenster weht ein Luftzug herein und blättert in den Seiten eines Museumsführers, der ebenfalls auf dem Boden liegt. Es klingt wie das Flügelschlagen eines eingesperrten Vogels.

[zur Inhaltsübersicht]
    2
    Der Mann liegt mit angezogenen Beinen auf der Seite, in einer Art Embryohaltung. Ruth fasst nach seiner Hand: noch warm. Ist ein Puls zu spüren? Sie kann keinen finden, doch ihre eigene Hand ist mit einem Mal schweißnass, und sie weiß nicht mehr genau, wo sie eigentlich suchen soll. Warum hat sie diesen Erste-Hilfe-Kurs bloß nie belegt? Sie merkt, dass sie die Luft anhält, und zwingt sich weiterzuatmen, ein und aus, durch Mund und Nase. Wenn sie jetzt umkippt, ist auch niemandem geholfen. Vorsichtig dreht sie den Mann um und ist gleich doppelt geschockt, so sehr, dass sie fast wieder zu atmen aufhört.
    Das Gesicht ist voller Blut, und es ist ein Gesicht, das sie kennt.
    Neil Topham, der Museumsdirektor, der einmal bei einem ihrer Vorträge zur Konservierung von Knochen war. Der höfliche, bescheidene Neil, der sie hin und wieder wegen eines Exponats um Rat gefragt hat. Und der jetzt hier, mitten in seinem Museum, auf dem Boden liegt, Nase und Mund blutverschmiert.
    Mit zitternden Händen tastet Ruth nach ihrem Handy. Großer Gott, wenn sie es bloß nicht im Wagen gelassen hat! Nein, da ist es. Sie wählt die Notrufnummer und bestellt einen Krankenwagen. Als sie nach der Anschrift gefragt wird, ist ihr Kopf plötzlich völlig leer, und sie kann nur noch quäken: «Smith-Museum. Bitte kommen Sie schnell!» Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt gelassen und ruhig, fast schon ein wenig gelangweilt. «Ein Wagen ist unterwegs.» Ruth beugt sich näher an Neils Mund heran. Sie hört und fühlt keinen Atem. Doch als sie ihm eine Hand auf die Brust legt, spürt sie einen Herzschlag, schwach und unregelmäßig zwar, aber doch unverkennbar. Halt durch, Neil, ermahnt sie ihn stumm. Ob sie ihn vielleicht anders hinlegen soll? Aber in den Büchern steht doch immer, das solle man gerade nicht tun. Verzweifelt sieht sie sich um. Über ihnen ragt dunkel und dräuend der Bischofssarg auf. Sonst ist nichts im Raum, bis auf einen kleinen Schaukasten in einer Ecke und einen einzelnen Männerschuh, direkt neben dem Fenster.
    Was ist bloß mit Neil passiert? Hatte er etwa einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall? Aber er ist doch noch jung! Junge Männer fallen nicht so einfach tot um. Erst jetzt kommt Ruth auf den Gedanken, dass Neils Unfall womöglich keiner natürlichen
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