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Alicia II

Alicia II

Titel: Alicia II
Autoren: Robert Thurston
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eremitenhaft veranlagt waren wie ich. Wenn ich jetzt mit einem Abstand von einer ganzen Lebensspanne auf mein erstes Leben zurückblicke, finde ich in meiner Erinnerung nur noch die trivialen Einzelheiten des Alltags. Meine Kenntnisse wurden damals mißbraucht und sind heute veraltet, und ich habe sogar jene Tatsachen und Theorien vergessen, die jede wache Minute meiner Zeit in der Enklave erfüllten. Nichts von meinen dort gemachten Erfahrungen liefert Stoff für Erzählungen eines alten Mannes von der großen Vergangenheit. Ich heiratete innerhalb der Gruppe, das taten wir alle. Einer von uns war sogar Spezialist für Inzucht, was Anlaß zu einigen anstößigen, aber echt komischen Witzen gab. Selenas Fachgebiet war die Soziogenetik. Sie war ein Mädchen mit sanftem Gesicht und unterentwickeltem Körper. Obwohl wir ausgezeichnet zusammen arbeiteten, regten wir uns nur selten zu sexueller Leidenschaft an.
    Schließlich wurde der sexuelle Akt überflüssig, und wir verzichteten darauf. Unser Bett sackte an den Seiten statt in der Mitte ein.
    Zu Beginn der mittleren Jahre, wenn derlei fast unvermeidlich ist, hatte ich eine Affäre mit Lanna Petersen, einer funktionell attraktiven brünetten Programmiererin. Doch wenn sie sich auch mehr sexy gab als Selena, war im Bett eigentlich nicht viel Unterschied.
    Mein Lebenswerk ist zusammengeschmolzen zu einer Fußnote in einer Fachzeitschrift, die selten zu Rate gezogen wird. Selena starb. Ich wurde zum Sonderling. Die erneuerte Selena war eine knubbelige, schlecht angezogene Blondine.
    Ich starb im Schlaf.
    Während der Rekonvaleszentenzeit hatte ich über den möglichen Inhalt meines neuen Lebens heftig nachgedacht.
    Selena hatte mich mehr oder minder direkt gebeten, in die Enklave und zu ihr zurückzukehren. Ihr sei das gleichförmige Leben in der Enklave ein Trost, meinte sie, denn das Durcheinander in der Welt draußen gehe über ihre Kräfte.
    Aber ich antwortete ihr entschlossen nein, mein Liebling, nicht noch einmal dasselbe. Nein, von dieser Runde erwartete ich mir einen Schmaus, ein Fest, einen Freudenrausch. Vollsaftige Erlebnisse sollten diesmal den Grundstock zu fesselnden Geschichten legen, die ich im Alter erzählen konnte. Mich verlangte es nach gefährlichen Abenteuern, nach den leckeren Früchten der Zerstreuung, nach regelmäßig eingeplanten Orgien. Wie sich herausstellte, bekam ich nicht alles davon. Im Gegensatz zu dem volkstümlichen Glauben ist die Erfüllung von zwei Wünschen unter dreien nicht genug.
    Vor Beginn meines abenteuerlichen Lebens mußte ich einen Besuch abstatten. In seinem ersten Leben war Dr. Ben Blounte der beste Freund meines Vaters gewesen. Sie wuchsen zusammen auf, feierten Doppelhochzeit und starben sogar nur Wochen voneinander getrennt. Das einzige, was sich nicht Hand in Hand bewerkstelligen ließ, war die Erneuerung. Als die meines Vaters fehlschlug, trauerte Ben mit der Familie.
    Sein Leid hatte damals in meinen Augen etwas Bizarres an sich – da vergoß ein kräftiger junger Mann Tränen um einen Greis, der ihn bei seinem letzten Besuch, als Ben gerade erneuert worden war und voll Freude seinen neuen Körper herzeigen wollte, nicht einmal mehr erkannt hatte.
    Während meines Lebens in der Enklave hatte ich mir nur für meine jährlichen Besuche bei Ben erlaubt, mein Asketentum zu unterbrechen. Er pflegte mich mit aller Gründlichkeit doppelt und dreifach zu untersuchen. Das letzte Mal, als wir einander sahen, hatte er verlangt, mein erster Weg nach der Erneuerung und Rekonvaleszentenzeit müsse zu ihm führen.
    Cleveland, einer der letzten Orte, der die moderne Stadtplanung und Architektur noch nicht eingeführt hatte, hatte sich nicht sehr verändert. Es war nach dem unpraktischen Gittersystem angelegt. Die Gebäude erhoben sich senkrecht nach oben und bohrten sich ebenso in die Erde. Die Straßen waren mehr oder weniger gerade und kreuzten sich in fast rechten Winkeln. Einschienenbahnen bummelten vorbei. Es gab sogar hier und da noch funktionierende Gleitbürgersteige.
    Und der Straßenverkehr ließ einen bedauern, daß in mehr als zwei Jahrhunderten so wenig Fortschritt auf dem Gebiet des Fahrzeugtransports erzielt worden war. Cleveland war eine unlogisch moderne Stadt, als versteckten Hüllen und Fassaden nur die industrielle Scheußlichkeit, die Zerstörerin des großen Sees, die es einmal gewesen war. Ich habe das Gefühl, wie die Zeiten sich auch entwickeln, Cleveland wird immer hinterherhinken. Ich fühlte mich dort
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