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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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froh, dass ich mich auf die Suche nach meinem Reich gemacht habe. Hilal spielt immer weiter, während ich mich aufs Bett lege und irgendwann zum Klang der Geige einschlafe.

Beim ersten Sonnenstrahl wache ich auf. Ich gehe in Hilals Zimmer. Sie schläft noch, und ich sehe in ihr Gesicht, das mit geschlossenen Augen tatsächlich wie das einer Einundzwanzigjährigen aussieht. Ich wecke sie behutsam und bitte sie, sich anzuziehen, weil Yao unten mit dem Frühstück auf uns wartet und wir nach Irkutsk zurückmüssen, von wo der Zug in wenigen Stunden weiterfährt.
    Wir gehen hinunter, essen eingelegten Fisch (etwas anderes gibt es um diese Zeit nicht), und bald hören wir den Wagen vorfahren, der uns abholen kommt. Der Fahrer begrüßt uns, nimmt unsere Rucksäcke auf und legt sie in den Kofferraum.
    Draußen strahlt die Sonne. Ein wolkenloser Himmel, kein Wind und in der Ferne die schneebedeckten Berge. Ich bleibe stehen, um mich vom See zu verabschieden, im Bewusstsein, dass ich vielleicht nie wieder herkommen werde. Yao und Hilal steigen in den Wagen, der Chauffeur lässt den Motor an…
    … aber ich stehe wie festgenagelt da und kann mich nicht von der Stelle rühren.
    »Kommen Sie. Ich habe eine Stunde mehr eingerechnet, falls es irgendwo unterwegs einen Unfall gibt, aber ich möchte kein Risiko eingehen.«
    Der See ruft mich.
    Yao steigt wieder aus dem Wagen und kommt zu mir.
    »Vielleicht haben Sie mehr vom Treffen mit dem Schamanen erwartet. Aber für mich war es wichtig.«
    Nein, ich hatte weniger erwartet. Später werde ich ihm erzählen, was ich in der Nacht mit Hilal erlebt habe. Jetzt aber schaue ich wie hypnotisiert auf den See, in dem sich die Morgensonne spiegelt. Mein Geist hat ihn mit dem Adler vom Baikalsee besucht, aber ich muss ihn besser kennenlernen.
    »Manchmal laufen die Dinge eben nicht so, wie wir denken«, fährt er fort. »Aber trotzdem vielen Dank, dass Sie mitgekommen sind.«
    »Kann man von dem Weg, den Gott vorgezeichnet hat, abweichen? Schon, aber es ist immer ein Fehler. Kann man durchs Leben gehen, ohne zu leiden? Schon, aber man lernt nichts dabei. Gibt es Erkenntnis ohne eigene Erfahrung? Ja, aber die Erkenntnis wird nie wirklich innerlich sein.«
    Und mit diesen Worten, ganz langsam, Schritt für Schritt, bewege ich mich auf das Wasser zu, das nicht aufhört, mich zu rufen. Dann, als die Vernunft sich einschaltet und mich bremsen will, beginne ich zu laufen, schneller und immer schneller, reiße mir im Laufen Schicht um Schicht die Winterkleidung vom Leib. Als ich am Ufer anlange, bin ich nackt bis auf die Unterhose. Ein kurzes Zögern, als meine Zehen das eiskalte Wasser berühren, dann stolpere ich über den steinigen Grund…
    … und springe schließlich kopfüber in den See hinein!
    Als ich eintauche, fühlt es sich an wie tausend spitze Nadeln auf meiner Haut. Ich bleibe so lange wie möglich unter Wasser - nur wenige Sekunden, die mir aber wie eine Ewigkeit vorkommen -, und als ich wieder auftauche: Sommer! Wärme!
    Ich mache mir nicht bewusst, dass es einem immer so geht, wenn man aus extremer Kälte in wärmere Temperaturen kommt. Ich stehe da, bis zu den Knien im Baikalsee, und freue mich wie ein Kind, weil ich einen Teil der Energie, die mich umgeben hat, nun in mich aufgenommen habe.
    Yao und Hilal, die mir gefolgt sind, wollen ihren Augen nicht trauen, als sie mich so sehen.
    »Los! Kommt rein!«, rufe ich ihnen zu.
    Die beiden ziehen sich aus. Hilal trägt keine Unterwäsche und steht einmal mehr nackt vor mir. Doch was macht das schon? Ein paar Leute versammeln sich am Pier und beobachten uns. Aber auch das, was macht das schon? Der See gehört uns. Die Welt gehört uns.
    Yao geht als Erster ins Wasser, aber er hat nicht mit dem steinigen Untergrund gerechnet, fällt hin, rappelt sich wieder hoch, macht ein paar weitere Schritte und taucht dann unter. Hilal scheint gleichsam über die Steine zu schweben, denn sie läuft schnell und weiter hinein als wir beide, taucht lange unter. Als sie wieder hochkommt, reckt sie die Arme zum Himmel und lacht wie verrückt.
    Von dem Augenblick an, in dem ich auf den See zugelaufen bin und bis wir wieder herauskamen, sind nicht mehr als fünf Minuten vergangen. Der Fahrer läuft uns voller Sorge mit ein paar Handtüchern entgegen, die er aus dem Hotel geholt hat. Wir drei hüpfen ausgelassen herum, fallen einander in die Arme, singen und rufen, wie heiß es hier draußen sei - wie die Kinder, die wir ein Leben lang bleiben
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