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AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN

AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN

Titel: AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN
Autoren: Gerhard Jelinek
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intellektuelle Aufbruchsstimmung wird als „Renaissance des Mittelalters“ bezeichnet.
    In dieser Zeit wird Pierre Abaelard 1079 in Le Pallet östlich von Nantes an der Mündung der Loire geboren, als erster Sohn einer bescheidenen Ritterfamilie. Eigentlich sollte Pierre wie sein Vater die Ritterlaufbahn einschlagen, vorher jedoch etwas lernen. Sein Vater schickte ihn zu Roscelin von Compiègne, einem später wegen Häresie verurteilten Mönch, der den Knaben für die Geisteswissenschaft begeistern kann. Pierre, oder lateinisch Petrus, will über Logik disputieren und zieht eine Gelehrtenlaufbahn dem Reiten, Stechen und Hauen vor. Nach seiner fünfjährigen Ausbildung reist der junge Mann durch die Lande. Den Wanderphilosophen – nichts Ungewöhnliches im Hochmittelalter – zieht es nach Chartres, damals ein Zentrum zeitgenössischer Gelehrsamkeit. Dort wird ihm der Name „Abaelard“ gegeben. Der Mann aus der Provinz fühlt sich immer stärker vom intellektuellen Zentrum seiner Zeit angezogen: Paris mit der Domschule von Notre-Dame auf einer Insel in der Seine, wo „von alters her diese Wissenschaft in höchster Blüte stand“, wie Abaelard in seinem ersten Brief, einer Art Autobiografie in Form eines „Trostbriefes“ („Historia Calamitatum“), an einen – wohl fiktiven – Freund schreibt.
    Der Kleriker ohne priesterliche Weihen scheint kaum von Selbstzweifeln angekränkelt gewesen zu sein. Er fühlt sich bald seinen Lehrern intellektuell überlegen, widerspricht ihnen in den Vorlesungen, fordert sie zu Streitgesprächen heraus und ist überzeugt davon, sie im Duell der Worte geschlagen zu haben. Das kann nicht gut gehen. Abaelard verlässt die Domschule, zieht nach Melun südöstlich von Paris und gründet eine eigene Schule. Staatliche Anerkennungsverfahren gibt es – noch – nicht. Dennoch ist Abaelards Handeln purer Hochmut und reine Anmaßung. Und auch das kann nicht gut gehen. Universitäten sind eigentlich noch nicht erfunden, sie entwickeln sich erst aus den Domschulen und brauchen zu ihrer Anerkennung im 13. Jahrhundert ein „Universitätsprivileg“ des jeweiligen Landesherrn und, da alle Lehre streng innerhalb des christlichen Gedankengebäudes zu erfolgen hat, auch eine Bestätigungsbulle des Papstes. Intrigen und Eifersüchteleien unter Theologen und Lehrern gibt es auch ohne akademische Privilegien. Abaelard muss seine „Schule“ schließen, versucht es noch einmal und flüchtet schließlich krank und erschöpft zu seinen Eltern heim nach Le Pallet.
    Wieder zu körperlichen und mentalen Kräften gekommen, attackiert der Aufmüpfige die konservativen und traditionellen Lehrer in Paris. Abaelard wird zum Heros einer neuen Theologen-Generation. Die Geisteswissenschaft denkt – wir sind im Hochmittelalter – ausschließlich innerhalb des strengen Korsetts der Theologie. Der junge Kleriker testet die Grenzen des abendländischen Denkens und wird dafür später verurteilt und bestraft werden. Der große Klostervater Bernhard von Clairvaux formuliert Jahre später in seinem Anklageschreiben an den römischen Papst Innozenz II. abfällig: „Wir haben hier in Frankreich einen neuartigen Theologen, der von Anbeginn seiner Jugend in der dialektischen Kunst sein Spiel trieb und jetzt in der Heiligen Schrift herumspintisiert.“
    Darum geht es in dem Konflikt, der das Leben Abaelards prägen wird: Eine neue Generation von Intellektuellen will den Maßstab des Zweifels und das Urteil der Vernunft auch an die Lehren der Kirchenväter anlegen. Im Vorwort seiner Schrift „Sic et No“ („Ja und Nein“) spricht er ein neues Glaubensbekenntnis an: „Durch Zweifeln kommen wir nämlich zur Untersuchung, in der Untersuchung erfassen wir die Wahrheit.“
    Der österreichische Schriftsteller Friedrich Heer sieht in Abaelard den „Einzelnen, den Einsamen, das moderne Individuum, welches sich auflehnt gegen die massive religiös-politische Weltordnung seiner Epoche“.
    An seinem Anspruch und an seiner intellektuellen Arroganz scheitert Abaelard wohl auch in seinem Theologiestudium, das der 31-Jährige nach einem weiteren Intermezzo in Paris bei Magister Anselm von Laon beginnt, aber schon nach wenigen Vorlesungen wieder abbricht. Der höchst angesehene Theologielehrer ist dem Schüler nur ein paar verächtliche Zeilen in seiner Biografie wert: „Wer in irgendeiner Frage unsicher an seine Tür pochte, um ihn aufzusuchen, der kehrte noch unsicherer zurück. Bewundernswert war er zwar in den Augen von
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