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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind
Autoren: Carolin Wittmann
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anschaute.
    »Das darfst du nicht machen«, sagte sie. »Das darf nur ein Arzt!«
    »Die Mama ist doch auch kein Arzt«, gab ich zurück.
    »Aber die Mama ist die Mama!« Jetzt heulte Anne wieder los und klammerte sich an ihren Kuschelmarienkäfer.
    »Und die Mama ist weg!«, sagte ich, woraufhin Juliane auch zu heulen anfing.
    Es ist schon ein Kreuz mit den kleinen Geschwistern. Da will man EINMAL helfen, und wie wird es einem gedankt?
    »Gut, dann lassen wir das mit den Zäpfchen. Ich habe Hustensaft gefunden. Wer will?«
    Hustensaft wollte natürlich auch keiner, aber diesmal setzte ich mich durch. Jeder meiner Schwestern flößte ich einen großen Löffel des klebrigen braunen Gebräus ein, dann stellte ich eine Bibi-Blocksberg-Kassette an und deckte die beiden mit allen Daunendecken, die ich finden konnte, zu. Meine Mama sagte immer, dass Wärme das Beste sei, um gesund zu werden. Und je wärmer, desto gesünder, dachte ich, überließ die Kleinen ihrem Schicksal und ging wieder fernsehen.
    Eine Stunde später, bei der Visite, gab es erneut Hustensaft für jeden, diesmal zwei Löffel, denn Anne hatte immer noch eine heiße Stirn, und Juliane hörte nicht zu quengeln auf. Diese Prozedur wiederholte ich in den kommenden Stunden, bis irgendwann, gegen elf, meine Eltern plötzlich auf der Matte standen.
    »Mama!«, schrie Juliane und sprang aus dem Bett, auf wundersame Weise von ihrer geheimnisvollen Krankheit geheilt. Anne blieb liegen, aber die war ja auch wirklich krank.
    »Tut mir leid, Kinder, gestern Abend ist es so spät geworden, da konnten wir nicht mehr losfahren. Und heute Morgen hatte der Papa dann einen Notfall, und ich bin mitgefahren, um zu helfen, und als wir dann dort waren, haben wir noch kurz bei der Frau Schröder vorbeigeschaut, wisst ihr, die mit dem kaputten Ohr gestern.«
    Juliane heulte sich gerade an Mamas Schulter aus, während sich Papa zu Anne ans Bett setzte und ihr an die Stirn fasste. »Hui, du hast ja erhöhte Temperatur, Schatz«, sagte er.
    Natürlich. Erhöhte Temperatur. Fieber fing bei meinem Vater erst bei circa 47 Grad Celsius Körpertemperatur an, und egal, wie erfolgreich wir versuchten, das Thermometer zu manipulieren, indem wir es in unseren heißen Tee tunkten, an diesen neuralgischen Punkt kamen wir nie. Demnach hatten wir auch nie Fieber. Bis auf Anne vielleicht, in ganz seltenen Fällen. Eben ganz die personifizierte Extrawurst.
    Der Blick meines Vaters fiel auf den Nachttisch, auf dem die jungfräulichen Fieberzäpfchen lagen und das fast leere Fläschchen mit Hustensaft stand.
    Er nahm Letzteres in die Hand, dann sah er Anne an. »Hauch mich mal an«, forderte er sie auf, und sie tat mit schwacher Brust, wie ihr geheißen.
    Mein Vater wandte sich zu mir um. »Caro, kannst du mir mal erklären, warum deine Schwester eine Alkoholfahne hat?«
    Püh … Ich entschied mich für diplomatisches Schweigen.
    Meine Mutter schnupperte an Juliane. »Du, Fritz, die Jule riecht auch nach Schnaps.«
    »Kein Wunder«, kommentierte mein Vater, und ich konnte immer noch nicht heraushören, ob er nun sauer auf mich war oder nicht. »Caro hat ihnen Jägermeister gegeben.« Und mit einem Blick zu mir sagte er: »Caro, mein Schatz, was hast du dir dabei nur gedacht?«
    »Ich habe sie behandelt«, verteidigte ich mich und konnte nicht verhindern, dass jetzt auch mir die Tränen in die Augen stiegen, »weil ihr wart ja nicht da, und die beiden Kleinen hatten Fieber und wollten keine Raketen in den Po!«
    Mein Vater kam auf mich zu … und nahm mich in den Arm. »Das hast du gut gemacht, Caro, du bist eine gute Ärztin und hast mir ganz toll über die Schultern geguckt. Aber bitte, tu mir einen Gefallen: Geh nie wieder an den Schrank mit den Schnapsflaschen, ja? Da sind keine Sachen für Kinder drin.«
    An diesem Tag bekam ich zum ersten Mal in meiner langen Karriere als rechte Hand meines Vaters nichts aus dem Glasgefäß mit den Spielzeugen in Behandlungszimmer 1.

3. Kopf an Kopf
    Wenn ich an Weihnachten mit meiner Familie denke, dann fallen mir keine besinnlichen Abende vor dem Kamin, keine rauschenden Geschenkorgien unter dem Weihnachtsbaum, keine stillen Stunden in trauter Mehrsamkeit ein. Wenn ich an Weihnachten mit meiner Familie denke, fallen mir genau die Sachen ein, die jedem Mediziner in den Sinn kommen, der an jenen Tagen schon einmal Dienst geschoben hat: Magen-Darm-Erkrankungen und Sodbrennen. Gallenkoliken. Schnittwunden, verursacht durch die unsachgemäße Nutzung von
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