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Advocatus Diaboli

Titel: Advocatus Diaboli
Autoren: Romain Sardou Hanna van Laak
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einem Kind nach dem anderen über die Stirn.
    Jedes Kind wurde gemustert. Am Ende der Reihe blieb der Mann wütend stehen. Er machte auf dem Absatz kehrt, blickte sich um und ging dann unvermittelt auf den umgekippten Tisch zu.
    Er hob ihn auf.
    Darunter verbarg sich ein kleiner, blonder Junge. Auf Befehl des Mannes streckte einer der Mörder dem angstvollen Gesicht des Kindes seine Hand entgegen, packte es und sagte: »Wir nehmen ihn mit.«

II
    A m Nordhang des Gianicolo in Rom, auf halbem Weg zwischen der Piazza Trivento und der Via Giolitti, befand sich ein Laden, in dem früher mit Seidenrollen, Orientteppichen und Korallenschmuck aus Antiochia gehandelt worden war.
    Wer jetzt durch dieses volkstümliche Viertel am rechten Tiberufer spazierte, fand die Fassade des Geschäfts kaum verändert vor; immer noch schaukelte das Schild in Form eines flämischen Wappens an der Stange. Allerdings war darauf nicht mehr der Name der früheren Kurzwarenhandlung zu lesen, sondern eine Inschrift in Großbuchstaben, deren Inhalt keinen Zweifel duldete:

BENEDETTO GUI HAT AUF ALLES EINE ANTWORT
    Die Regale und die Schmuckauslagen hatten Reihen von Ledereinbänden, Handschriften und Papieren Platz gemacht. Doch es fanden sich auch Fläschchen mit Salben, Tierhäute, Tabellen über Mondfinsternisse, seltene Metalle, eine normannische Schleuder, Katzenknochen und allerlei Proben. Ein Sammelsurium, in dem sich die vielseitigen Interessen des Inhabers widerspiegelten.
    Dieser genoss einen sagenhaften Ruf in diesem Teil der Stadt. Niemals hatte es jemand gewagt, über die Behauptung auf seinem
Schild zu spotten, so sehr entsprach sie der erstaunlichsten und reinsten Wahrheit.
    Benedetto Gui hatte wirklich und wahrhaftig auf alles eine Antwort.
    Jemand benötigte die schier unauffindbare lateinische Übersetzung eines arabischen Kommentars? Benedetto Gui besorgte sie. Es gab ein mathematisches Rätsel, das seit der Antike ungeklärt war? Er löste es. Ein Mord? Er entlarvte den Verbrecher und dessen Beweggründe und war dabei den Stadtwachen ebenso voraus wie dem Offizial ad excessus des Bistums, einem Beauftragten, der für die Aufklärung von Morden zuständig war. Ein Scharlatan narrte die Menschen, um ein Elixier, das ein langes Leben garantierte, oder einen Puder, der Metalle verwandeln konnte, zu verkaufen? Benedetto Gui stellte ihn bloß und rettete die Menge vor ihrer dummen Leichtgläubigkeit.
    Seine Erfolge waren unzählbar und sparten keinen Bereich aus, nicht einmal den banalsten: Nachdem er sich beim Kartenspiel als unbesiegbar erwiesen hatte, kamen mehrere Spielhöllen in Rom überein, ihm eine Pension zu bezahlen, damit er ihre reichen Kunden nicht mehr ruinierte.
    Die kleinen Leute vergötterten Benedetto Gui. Manch ein Prälat, Gutsherr und Großhändler war vor Gericht gestellt worden, weil Gui sich des Schicksals eines armen Küsters, Stallknechts oder Lieferanten angenommen hatte, dem Unrecht angetan worden war. Mit seiner Überredungskunst und Klarheit war er eine Freude für die Richter und der Albtraum der Rechtsberater.
    Er hätte ein Vermögen machen oder eine reich entlohnte Persönlichkeit bei Hofe werden können wie die Berater, die Minister oder die Astrologen, doch er zog es vor, unbehelligt von den Wirrungen der Macht zu leben. Geld besaß in seinen Augen keinerlei Wert; einzig Herausforderungen, Begeisterung und das leidenschaftliche Ringen um Beweise erregten ihn.

    Er war zweiunddreißig Jahre alt und ein schöner Mann, von kleinem Wuchs, blond, mit offenem Gesicht und klarer Stirn. Entgegen dem gängigen Brauch trug er die Haare lang und einen ungepflegten Bart, der beinahe sein ganzes Gesicht überwucherte. Er war immer schwarz gekleidet, denn noch sechs Jahre nach dem Tod seiner Frau legte er Trauerkleidung an. Er lebte allein.
    Gui hatte den kleinen Laden an der Via dei Giudei zwei Jahre zuvor gekauft. Er wohnte in einem Zimmer im Hochparterre und duldete nur eine alte Dienstbotin namens Viola in seiner Nähe, die sich jeden Morgen um seine Wäsche und um seine Mahlzeiten kümmerte. Eine Heilige, die die Launen eines Mannes ertrug, der immerzu in Gedanken versunken war und bei der nichtigsten Störung in Harnisch geriet.
    Er ging nur aus, um seine Nachforschungen durch neue Erkenntnisse zu bereichern. Meist stand er noch vor Morgengrauen auf, entzündete eine reichliche Anzahl Kerzen, denn er hasste das Halbdunkel, das seine Augen ermüdete, erwärmte Wein auf einem Ofen (selbst im Sommer trank
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