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Adiós Hemingway

Adiós Hemingway

Titel: Adiós Hemingway
Autoren: Leonardo Padura
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wollten ihm den Verfolgungswahn austreiben, der ihn um den Verstand zu bringen drohte. Aber was haben sie damit erreicht? Sie haben ihm das Hirn geröstet und ihn danach mit tausend Tabletten voll gestopft … Sie haben aus ihm eine lebende Leiche gemacht. Hemingway konnte nie wieder schreiben, weil man ihm zusammen mit dem Verfolgungswahn auch einen Teil des Gedächtnisses ausgebrannt hatte, und ohne Gedächtnis kann man nicht schreiben. Er mag ja vieles gewesen sein, aber vor allem war er Schriftsteller. Mit anderen Worten, man hat sein Leben vermasselt. Und das ist sehr traurig, Ruperto. Soweit bekannt ist, hatte euer Papa weder Krebs noch sonst irgendeine tödliche Krankheit. Aber sie haben ihn kastriert. Er, der immer allen beweisen wollte, dass er ein ganzer Kerl war, der seine Eier allen gezeigt hat, damit sie sehen konnten, dass er welche hatte, er wurde kastriert, hier oben.« Mario schlug sich mit der flachen Hand gegen die Schläfe, zwei-, dreimal, heftig, wütend, bis es wehtat. »Und ohne das konnte er nicht weiterleben. Deswegen hat er sich eine Kugel in den Kopf gejagt, Ruperto, aus keinem anderen Grund! Und dieser Schuss ging sozusagen schon in der Nacht des 2. Oktober 1958 los … Aber angenommen, er hat den Agenten gar nicht selbst erschossen, dann brauchte er wirklich Eier, um den Täter zu decken, und er hat es teuer bezahlt. Meinen Sie nicht auch, Ruperto?«
    El Conde wusste, dass seine Worte erbarmungslos wie ein Messer ins Fleisch der Erinnerung geschnitten hatten. Darum erstaunte es ihn auch nicht, als er sah, wie aus den Augenwinkeln des Greises Tränen über das verschwitzte, runzlige Gesicht liefen. Doch Ruperto wischte sie weg, er gab den Kampf noch nicht verloren.
    »Papa hatte Leukämie. Deswegen hat er sich umgebracht.«
    »Leukämie ist nie diagnostiziert worden.«
    »Er hat an Gewicht verloren, wurde immer dünner …«
    »Zuletzt wog er nur noch einhundertfünfundfünfzig Pfund. Sah aus wie der Tod auf Urlaub.«
    »Weil er krank war … War er wirklich so dünn?«
    »Fünfundzwanzig Elektroschocks, Ruperto, und Tausende von Tabletten! Wenn das nicht gewesen wäre, würde er vielleicht heute noch leben, wie Sie, wie Toribio. Aber sie haben ihn fertig gemacht, und jetzt will man ihm diesen Mord anhängen. Das hat ihm gerade noch gefehlt … Das FBI hat ihn tatsächlich bespitzelt. Der Chef dieser Leute hasste ihn, einmal hat er sogar das Gerücht in die Welt gesetzt, Hemingway sei schwul.«
    »Das ist eine verdammte Lüge!«
    »Also, Ruperto, wollen wir ihn nun retten oder endgültig fertig machen?«
    Der Alte wischte sich wieder die Tränen vom Gesicht, diesmal aber wirkte die Geste sichtlich erschöpft. El Conde fühlte sich hundserbärmlich. Hatte er irgendein Recht dazu, einem alten Mann die schönsten Erinnerungen seines Lebens zu zerstören? Auch deshalb, weil er nicht mehr zu so etwas gezwungen sein wollte, hatte er den Polizeidienst quittiert.
    »Papa war für mich das Größte auf der Welt«, sagte Ruperto. Seine Stimme klang plötzlich alt. »Seit ich ihn kenne, hat er mich ernährt, bis heute, und dafür muss man dankbar sein.«
    »Ja, dafür muss man dankbar sein, natürlich.«
    »Ich weiß nicht, wer den Scheißkerl umgebracht hat, der sich auf die Finca geschlichen hatte«, sagte der Alte, ohne seinen Gesprächspartner anzusehen. Er sprach wie zu etwas Fernem, vielleicht sprach er zu Gott. »Hab ihn nie danach gefragt … Als Toribio an meine Tür klopfte, so um drei Uhr morgens, und zu mir sagte, komm, Ruperto, ich soll dich holen, hat Papa gesagt, da bin ich mit ihm zur Finca gegangen. Raúl und Calixto waren dabei, das Loch auszuheben, und Papa stand daneben mit seiner großen Taschenlampe. Er sah besorgt aus, aber nervös war er nicht, ganz bestimmt nicht. Er wusste genau, was er tat. ›Es gab da ein Problem, Rupert‹, hat er zu mir gesagt. ›Mehr kann ich dir nicht verraten, klar?‹ Und ich hab geantwortet: ›Ist nicht nötig, Papa.‹ Auch Toribio hat er nichts erzählt, aber Raúl schon, glaub ich. Raúl war wie ein Sohn für ihn. Und dass Calixto wusste, was passiert war, das weiß ich genau. ›Los, helft mit beim Ausschachten‹, hat Papa uns aufgefordert. Toribio und ich haben die Schaufeln genommen. Als das Loch fertig war, haben Calixto und ich, wir waren die Kräftigsten, wir haben also den Toten geholt. Er war sauschwer. Lag in einer Decke vor der Tür zur Bibliothek. Wir haben ihn also zum Loch geschleppt und hineingeworfen. Und dann hat Papa noch die
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