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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel
Autoren: Rose Tremain
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Gelächter aus. Die Männer in der Ecke verstanden die grobe Äußerung und die anschließende Heiterkeit als Einladung, ihre unterbrochenen gierigen Bemühungen wieder aufzunehmen, und taten es in einer gewissen Hast, völlig unbekümmert darum, ob ich sie in ihrer hündischen Brunst sah.
    Ich betrachtete die beiden und das ganze unerfreuliche Spektakel, und ich dachte bei mir, wenn die Menschen sich von Nahem sehen würden, so bar aller Nüchternheit und zu Tieren geworden, nun, dann würden sie vielleicht nicht, so wie ich, immer wieder von Neuem so tief sinken und sich der bloßen Lüsternheit überlassen, weil sie endlich begriffen, dass ihnen das beinahe ihre Seele stiehlt.
    In diesem Augenblick kam eine junge Frau zu mir, in der ich Margarets Kammerzofe Tabitha erkannte – sie, die mitsolch selbstloser Hingabe über der schrecklichen Krankheit meiner Tochter gewacht hatte. Auch Tabitha hatte getrunken, und ihr Haar war zerzaust und fiel ihr in die Augen, aber ihr Kleid war sauber und glatt. Sie nahm mich wortlos bei der Hand und führte mich aus der Küche. Sie stieg die Treppe hinauf und betrat den Flur, der zur Bibliothek führt, und weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, humpelte ich hinter ihr her und überließ das unzüchtige Gelage unter mir sich selbst und seinem eigenen Verderben. Tabitha öffnete die Bibliothekstür, und wir traten ein.
    Ich blickte mich um. Mir schien, es standen sehr viel weniger Möbel da als früher, und auf den verbliebenen lagen weiße Abdecktücher. Es war kühl und muffig in dem Raum. Ich zog eines der Tücher weg und sank in einen Sessel, und mein Stock fiel zu Boden.
    »Wo ist Will?«, fragte ich mit einem langen, schmerzlichen Seufzer. »Bitte geh und such Will Gates.«
    Da kam Tabitha zu mir und kniete neben mir nieder. »Sir Robert«, sagte sie, »Ihr dürft uns nicht bestrafen. Wir haben Eure Abwesenheit ungebührlich ausgenutzt, und wir entschuldigen uns für das, was geschehen ist, doch es ist nur deshalb so weit gekommen, weil wir kein Geld für den Haushalt hatten …«
    »Kein Geld?«, sagte ich. »Was heißt das? Ich habe doch reichlich Geld hinterlassen.«
    »Nein, Sir. Nach November hatten wir nichts mehr, Sir. Nichts für Essen oder Öl oder Kerzen oder sonst irgendwelche Waren. Wir haben das Rotwild getötet und gegessen. Es blieb uns nichts anderes übrig. Als es kein Wild mehr gab, haben wir die Schweine und die Schafe der Bauern im Austausch für Fleisch in Eurem Park grasen lassen. Wir konnten kein Bier kaufen, also tranken wir aus Eurem Keller. Denn Ihr schicktet uns kein Geld und keine Nachricht. Da konnten wir nur vermuten, dass Ihr tot wart oder beschlossen hattet, uns zu vergessen, und deshalb seid in Wahrheit Ihrverantwortlich, weil Ihr uns so grausam im Stich gelassen habt. Wir waren nicht bereit zu hungern.«
    »Tabitha«, sagte ich, »ich habe Euch nicht ›im Stich gelassen‹. Du weißt, was für ein Mensch ich bin. Ich hätte so etwas nie tun können. Bevor ich in die Schweiz reiste, habe ich Will Gates die Hälfte vom Sechs-Monats- loyer des Königs übergeben. Das war mehr als genug, um den Haushalt zu führen und Lebensmittel für ein ganzes Jahr zu kaufen, und das Jahr ist noch nicht einmal vorbei.«
    Tabitha blickte auf den Teppich nieder. Mit den Fingern fuhr sie nervös über sein kompliziertes Muster. »Wir haben gesucht«, sagte sie, »aber wir haben nichts gefunden. Wir konnten das Geld nirgendwo finden.«
    »Ihr habt gesucht …«
    »Ja. Als Mr. Gates heimging –«
    »Was?«
    »Als Mr. Gates uns verließ, Sir …«
    Tabitha verbarg ihren Kopf in den Händen und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie sah mich nicht an, als sie sagte: »Er hat nicht gelitten, Sir Robert. Er starb im Schlaf am ersten Dezember. Als er an dem Morgen nicht herunterkam, sind Mr. Cattlebury und ich zu seinem Zimmer gegangen, und er lag sehr friedlich und still auf seinem Bett und war mit seinem alten Dachspelz zugedeckt.«
    Ich ließ den Blick durch die verhüllte Bibliothek wandern und klammerte mich an die Lehnen meines Sessels. Ich bewegte keinen Muskel meines Gesichts oder Körpers und sagte kein Wort.
    Tabitha fuhr fort: »Wir haben alles korrekt erledigt, Sir Robert, so gut wir konnten. Wir haben nach den Leichenbeschauern geschickt, damit sie die Ursache des Todes feststellten, aber sie sahen keine Ursache, außer dass sein Herz aufgehört hatte zu schlagen. Sie sagten nur, dass Mr. Gates jetzt bereit sei, ›eins mit der Erde zu
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