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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Autoren: Thea Dorn
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es unerlässlich, nach Figuren Ausschau zu halten, die über ein zeitgemäßes republikanisches Pathos verfügen, den Bürgern keine vollen Tische versprechen und gleichzeitig ahnen, dass die Haushaltskasse leer ist, die Lust wecken am öffentlichen Streit um Inhalte, anstatt das Land in falscher Konsens-Umarmung zu ersticken.
    Noch ist unklar, ob seine schwer angeschlagene Gesundheit es Helmut Kohl erlauben wird, an den Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag des Mauerfalls teilzunehmen. Als Privatmensch wünsche ich ihm alles Gute. Als Staatsbürgerin bekenne ich: Über der Vorstellung, »den Alten« noch einmal auf einer schwarz-rot-gold beflaggten Empore stehen zu sehen, schwebt ein Hauch von Horror.

Vulgärpazifismus
     
    Thea Dorn misstraut den deutschen Friedenstauben .
     
    Die Frage, »obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden, oder sich waffnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden?«, trieb Hamlet an den Rand des Wahnsinns und darüber hinaus.
    Weit entfernt von solch seelischer Zerrissenheit bewegen sich die fünfundzwanzig prominenten Künstler und Medienschaffenden, die in der Wochenzeitung Freitag die Bundesregierung aufgefordert haben, Deutschlands militärische Präsenz in Afghanistan innerhalb von zwei Jahren zu beenden. Hamlet war weise genug zu sehen, dass es bei der Frage »wütendes Geschick dulden« oder »durch Widerstand enden« ums Ganze geht – ums sprichwörtlich gewordene »Sein oder Nichtsein«. Schaut man sich in der Geschichte des ernst gemeinten Pazifismus um, stellt man fest, dass all seine Gallionsfiguren bereit waren, das »Nichtsein« als Konsequenz ihres Pazifismus in Kauf zu nehmen: Sokrates weigerte sich, aus dem Gefängnis zu fliehen, und trank den tödlichen Becher, zu dem ihn die Athener verurteilt hatten: Tiefster und letzter Ausdruck seiner Überzeugung, dass es allemal richtiger ist, Unrecht zu erleiden, als selbst Unrecht zu tun. Jesus starb seinem Credo gemäß, dass die einzig richtige Reaktion auf einen Schlag ins Gesicht darin besteht, dem Schlagenden die andere Gesichtshälfte hinzuhalten. Amish-People ließen sich bei ihrer Ankunft in den USA im 18./19. Jahrhundert widerstandslos von Indianern abschlachten, weil ihr Glaube es ihnen verbietet, sich selbst in akutesten Notwehrsituationen gewaltsam zu verteidigen.
    Die Unterzeichner des aktuellen Pazifismusaufrufs von Elfriede Jelinek bis Charlotte Roche, von Jürgen Flimm bis Katharina Thalbach hingegen scheinen zu glauben, man könne sein Gewissen lämmchenweiß halten und dennoch in den Genuss des »Seins« kommen. Sie erklären, dass Deutschland der Verantwortung, die es in Afghanistan übernommen hat, nicht ausweichen soll. Mit der Gummiformel »langfristiges entwicklungspolitisches Engagement« hoffen Schriftsteller und andere Wortarbeiter, die sonst keine Gelegenheit auslassen, die Bundesregierung für deren Gummiformel vom »Stabilisierungseinsatz« zu kritisieren, den gordischen Gewissensknoten zu durchschlagen. Ob die versammelten Unterzeichner mit Menschen geredet haben, die sich in Afghanistan tatsächlich »entwicklungspolitisch engagieren«? Die Antwort, die ich von fast allen gehört habe, die dort für Bildung und Zivilgesellschaft kämpfen, lautet: Ohne massiven militärischen Schutz – der zum Beispiel auch beinhaltet, dass man es nicht einfach geschehen lässt, wenn Taliban zwei Tanklastzüge entführen – brauchen wir hier keinen Tag länger zu arbeiten.
    Da ist Richard David Precht in seiner Ablehnung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan schon konsequenter. Im Spiegel machte der Philosoph, der mit der Frage »Wer bin ich – und wenn ja wie viele?« berühmt wurde, seinem Zorn gegen den »verlogenen Menschenrechts-Bellizismus« Luft. Zwischen den Zeilen gibt er deutlich zu verstehen, dass es ihm egal ist, was in Afghanistan mit der emanzipationswilligen Bevölkerung geschieht. Die Verdienste der Bundeswehr schrumpfen bei ihm darauf zusammen, dass diese »am Hindukusch einigen Menschen das Leben gerettet, ein paar Straßen friedlich gemacht und ein paar Frauen und Schulkindern das Leben erleichtert hat«.
    Es sind Fragen von Leben und Tod, die hier verhandelt werden. Der Philosoph, der nicht genau weiß, wer – und wenn ja wie viele – er ist, spricht lieber von »feinen Dingen«. Allerdings vergeht ihm der Distanz-Jargon, wenn er daran denkt, dass die Bundesregierung »durch ihre Afghanistan-Abenteuer« die Bundesrepublik »fahrlässig zur
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