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Abschied von der Küchenpsychologie

Abschied von der Küchenpsychologie

Titel: Abschied von der Küchenpsychologie
Autoren: Hans-Peter Nolting
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weil er wirklich gut ist, oder weil er daran am meisten verdient? Ist die neue Nachbarin so nett zu mir, weil sie mich mag, oder weil sie so ein freundlicher Mensch ist? Kommt die Entschuldigung der Kollegin aus echter Reue oder aus Berechnung?
    Kaum vorstellbar, dass ein Mensch niemals psychologisch denkt. Würde ich mir keine Gedanken über die Motive eines anderen Menschen machen, würde ich vielleicht in eine Falle tappen. Würde ich nicht einschätzen, ob jemand für eine Arbeit geeignet ist, hätte ich später vielleicht viel Ärger und Kosten am Hals. Auch Menschen, die das Wort Psychologie noch nie gehört haben, die vielleicht in einem abgeschiedenen Volksstamm fern jeglicher Schulbildung aufwachsen, auch die denken psychologisch.
    Weil wir anders gar nicht durchs Leben kommen, versorgt uns auch die Sprache mit einem reichen Schatz an Volksweisheiten, häufig in Form von Sprichwörtern und Redensarten:
    «Gegensätze ziehen sich an» – «Gleich zu Gleich gesellt sich gern» – «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» – «Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht» – «Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil» – «Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder» – «Genie und Wahnsinn liegen nahe beieinander» – «Die äußere Ordnung ist ein Spiegel der inneren Ordnung» – «Liebe macht blind» – «Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen».
    Niemand hat also einen psychologisch leeren Kopf. Und hieraus ergibt sich ein wichtiger Unterschied zu manchen anderen Fächern. Wer sich anschickt, Chemie oder Spanisch zu lernen, füllt Wissenslücken, lernt
dazu
. Wer sich hingegen mit Psychologie beschäftigt, lernt
um
 – jedenfalls immer dort, wo die Informationen den vertrauten Denkweisen zuwiderlaufen. Genauer gesagt: Oft
müsste
man umlernen, doch häufig leistet das alte Überzeugungswissen heftigen Widerstand.
    Das wäre dann ein Fall von Küchenpsychologie. Dieser unscharfe und etwas abfällige Begriff bezieht sich auf eigene oder übernommene Annahmen ohne Grund und Boden. Menschen unterhalten sich über eine psychologische Frage und verkünden, manchmal sogar mit Leidenschaft, was sie «glauben» oder wovon sie «überzeugt» sind, obwohl sie keinerlei Sachkenntnisse und keinerlei durchdachte Begründungen mitbringen und wissenschaftliche Informationen zurückweisen, falls sie solche hören.
    2.2 Alltagspsychologie und Wissenschaft im Vergleich
    Nicht jede Alltagspsychologie ist im beschriebenen Sinne «Küchenpsychologie». Manche Volksweisheiten sind tendenziell richtig und durchaus hilfreich; manche subjektive Urteile sind gut begründet. Der grundsätzliche Unterschied zur wissenschaftlichen Psychologie liegt auch nicht darin, dass alltagspsychologische Annahmen gewöhnlich «falsch» und wissenschaftliche immer «richtig» sind. Zwar sind etliche populäre Vorstellungen aus wissenschaftlicher Sicht barer Unsinn und pure Küchenpsychologie, doch prinzipiell kann auch psychologisches Denken im Alltag Hand und Fuß haben und mit akademischer Psychologie durchaus auf einer Linie liegen.
    Ein grundsätzlicher Unterschied liegt in den
Funktionen
von Wissenschaft und Alltagspsychologie. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, den Dingen auf den Grund zu gehen und immer genauere Erkenntnisse zutage zu fördern. Alltagspsychologie brauchen wir dagegen, um uns im Leben zurechtzufinden. Ihre Aufgabe ist es, uns Orientierung zu geben, und zwar in vielen Fällen möglichst rasch und ökonomisch. Das kann sie am besten leisten, indem sie die Dinge vereinfacht und sich nicht lange mit Relativierungen und alternativen Sichtweisen aufhält.
    Es ist etwa wie beim Kauf eines Gerätes. Wer kann schon die Vor- und Nachteile einzelner Produkte intensiv studieren? Das wäre anstrengend und zeitraubend. Genau hier liegt die Chance der Werbung. Wir entscheiden uns schnell und mit einem guten Gefühl, wenn wir einfach glauben: «Diese Marke ist solide und verlässlich.» Ob beim Einkauf oder beim Urteil über andere Menschen – der Verzicht auf gründliche Recherchen mag leichtfertig sein, aber die Alternative wäre, nie fertig zu werden.
    Die Alltagspsychologie ist also leicht fertig – das ist ihr Vorteil. Aber sie ist zuweilen auch leichtfertig – das ist der Nachteil. Der zeigt sich, wenn man mit seinen Einschätzungen danebenliegt und ein Problem sogar noch verschlimmert, statt es zu lösen. Wer dies
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