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Absätze – Dramatische Kraftzellen im Roman

Absätze – Dramatische Kraftzellen im Roman

Titel: Absätze – Dramatische Kraftzellen im Roman
Autoren: Stephan Waldscheidt
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stärkeren Gefühlen. Ein Satz, der
mitten in einem Absatz nicht weiter auffällt, kann an seinem
Ende für prickelnde Hochspannung sorgen. Das gilt
insbesondere für knappe Sätze.
     
    Ein Absatz in einem Roman beginnt idealerweise mit einem
starken Satz – und endet mit einem noch stärkeren. Die
Sinneinheit – im Beispiel unten will Lissa den Gefangenen
der Kannibalen befreien – bleibt bestehen.
     
    Lissa sprang mitten unter die schlafenden Kannibalen. Bevor
der erste wach wurde, hatte sie bereits das Lagerfeuer
gelöscht, bevor sich der erste aufrappelte und zur Waffe
griff, war Lissa bereits bei dem Gefangenen. Als die ersten
schrien, sich in der Dunkelheit zu orientieren versuchten,
zerschnitt Lissas Messer bereits die Fesseln. Sie wollte den
Mann auf die Beine zerren, aber plötzlich saß ihr sein
Messer an der Kehle.¶
     
    Der Absatz fängt dramatisch an: Ein Sprung mitten unter
schlafende Kannibalen. Doch die Dramatik innerhalb des
Absatzes steigert sich. An seinem Ende steht Lissa unter
ausgesprochen wachen Kannibalen und hat ein Messer an der
Kehle.
     
    Damit ein Absatz auch inhaltlich seine Wirkung im Gefüge
einer längeren Geschichte oder eines Romans voll entfalten
kann, sollte er folgendes enthalten:
    - eine Handlung (auch ein Dialog ist immer Handlung!);
    - ein Bild, allgemeiner: etwas sinnlich Erfahrbares;
    - ein Gefühl, eine Stimmung.
     
    Wenn Sie in einem Absatz einen Gedanken oder einen inneren
Monolog zeigen – also auf Handlung verzichten –, sollte der
Gedanke zumindest ein Bild oder ein Gefühl beinhalten.
Lassen Sie den emotionalen Draht zu Ihren Lesern nicht mal
für einen Satz reißen!
     
    So könnte im Beispiel oben auf die Action ein Gedanke
Lissas folgen:
     
    Würde er sie wirklich töten? Obwohl er sie noch nicht
einmal mit der Klinge berührt hatte, meinte sie schon das
Blut auf ihrem Hals zu spüren. Sie wunderte sich selbst,
dass sie keine Angst hatte, im Gegenteil, sie spürte eine
sonderbare Klarheit. Fühlte sich so die Nähe des Todes an?
     
    Ein geschickt gebauter Absatz kann statt direkt über den
Inhalt auch über Kontrast hochspannend werden – indem der
erste und der letzte Satz des Absatzes einen starken
Kontrast bilden, sprich: eine starke Spannung fühlbar wird.
Wie hier im Roman »Das Licht in einem dunklen Haus« von Jan
Costin Wagner (Galiani Berlin 2011).
     
    Sie arbeitete als Prostituierte. Joentaa wusste nicht, wo.
Irgendwann begann er, sie danach zu fragen, aber sie grinste
nur schief und sagte, das wolle er nicht wissen. Als der
Sommer begonnen hatte, hatte sie ihm gesagt, dass sie
zusätzlich einen Halbtagsjob angenommen habe, als
Eisverkäuferin, und Joentaa sagte, das freue ihn.
(S. 12f.)
     
    Der erste Satz ist ein Schock für den Leser. Er erfährt,
dass die Freundin des Helden, des Polizisten Joentaa, eine
Prostituierte ist. Dieser krasse Satz wird kontrastiert mit
dem letzten Satz, der in seiner Nettigkeit nach kindlicher
Unbeschwertheit klingt: Sie arbeitet auch noch als
Eisverkäuferin, so ziemlich dem harmlosesten und nettesten
Beruf. Und Joentaa? Er freut sich – er ist das Gegenteil von
schockiert.
     
    Überhaupt gilt, zumindest für längere, Absätze, was auch
für Szenen gilt: Der Leser sollte eine Veränderung spüren
zwischen Beginn und Ende des Absatzes. Die Veränderung ist
letztlich ein Sonderfall des Stilmittels Kontrast, das das
Beispiel aus Wagners Roman verdeutlicht hat.
     
     

 
3. Absätze als optisches Gestaltungsmittel
     
    Nehmen Sie irgendeinen Roman in die Hand und blättern Sie
ihn durch, schnell aber komplett, fangen Sie nicht an zu
lesen.
     
    Wie oft haben Sie schon im Buchladen gestanden, einen Roman
in der Hand, und haben ihn so durchgeblättert? Vielleicht
hatten Sie den Anfang gelesen, waren aber noch unschlüssig,
ob Sie das Buch kaufen sollen?
     
    Schon während des Blätterns bekommen Sie unbewusst ein
Gefühl für den Text. Stellen Sie sich das Buch als ein Haus
vor, in dem Sie – als Leser – vorübergehend wohnen. Stellen
Sie sich dann die Zeilen als Gitterstäbe vor.
     
    In welchem Haus würden Sie sich wohler fühlen? In einem,
das Ihnen den Blick verstellt und das Atmen schwer macht?
Oder in einem anderen, wo sie mehr von der Welt sehen
können, wo sie leichter Luft bekommen?
    Welches Haus würden Sie – als Autor – lieber bauen?
     
    Moment. Eins noch, bevor Sie antworten. Das Bild ist nicht
zu Ende gemalt: Ausgerechnet die
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