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Absätze – Dramatische Kraftzellen im Roman

Absätze – Dramatische Kraftzellen im Roman

Titel: Absätze – Dramatische Kraftzellen im Roman
Autoren: Stephan Waldscheidt
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Gitterstäbe geben den
Fenstern ihren Halt. Nimm zu viele von ihnen weg, und das
ganze Haus stürzt in sich zusammen.
     
    Nun? Wofür haben Sie sich entschieden? Als Leser? Als
Autor?
    Vermutlich für den guten, alten Mittelweg. Schön. Kreatives
Layout überlassen Sie den Designern und Künstlern, Sie als
Autor kümmern sich um Ihre Geschichte. Sie als Leser
sowieso.
     
    Ist es tatsächlich so einfach?
     
    In der Lyrik nehmen wir Absätze (die Verse) und Leerzeilen
als Stilmittel ganz selbstverständlich hin. Dass beide auch
in der Prosa einen Text prägen können, wird zu häufig
vergessen. Absätze macht man eben, irgendwie und intuitiv.
     
    Doch wie bei allem Unreflektierten und Unwillkürlichen
geben Sie auf diese Weise die Kontrolle ab. Statt bewusst
die Wirkung Ihres Textes zu steuern, verlassen Sie sich auf
Ihre Intuition. Das kann funktionieren. Doch das muss es
nicht. Schon gar nicht so, wie Sie das gerne hätten.
     
    Bereits 1943 schrieb Stil-Lehrer Ludwig Reiners: »Ein
ständiges Augenhilfsmittel ist der Absatz. Schreiber, welche
seitenlang ohne Absatz weiterplaudern, verdienen nicht,
gelesen zu werden. Jeder Gedankengang hat von Zeit zu Zeit
einen Einschnitt. Der Leser muss ihn erfahren.«
     
    Absätze sind weit mehr als ein »Augenhilfsmittel«. Doch
schon als Augenhilfsmittel leisten sie so einiges.
     
    Zwei Extreme in der optischen Absatz-Gestaltung finden Sie
mit Hans-Ulrich Treichels Roman
Der Verlorene
(Suhrkamp
1999) und bei Thrillern von James Patterson. Während die
britische Taschenbuchausgabe von Pattersons
Roses are red
(Warner 2000) auf 414 Seiten 124 Kapitel (!) mit unzähligen
(auch noch eingerückten) Absätzen enthält, erstreckt sich
bei Treichel ein einziger Absatz schon mal über mehr als 60
Seiten; genauer betrachtet verzichtet Treichel auf einzelne
Absätze, nur drei Leerzeilen teilen den dünnen Roman von 175
Seiten in vier Abschnitte – und die wenigen Leerzeilen
scheinen noch dazu willkürlich gesetzt.
     
    Patterson wettet mit seinem Absatz- und Kapitel-Stakkato
auf die kürzer gewordene Aufmerksamkeitsspanne der Leser.
Die atemlos knappen Kapitel sind das geschriebene Pendant zu
den hektischer werdenden Schnitten in Filmen. In einem
Rutsch lassen sie sich durchlesen: zwischen zwei
U-Bahn-Stationen ebenso wie in der Warteschlange im
Supermarkt. Oder eben als E-Book, das der geniale
Selbstvermarkter Patterson sicher schon lange vor dessen
Durchbruch auf seiner Rechnung hatte.
    Andererseits erlauben 124 Kapitel 123 Cliffhanger. Der
Leser fliegt durch den Text. Das ist auch psychologisch
raffiniert: Wer so viel umblättern muss, auf den wirkt der
Roman schneller als bei einem weniger großzügigen Layout.
Mehr noch: Durch das als hoch empfundene Lesetempo erscheint
der Roman dem Leser, besser: dem Konsumenten, spannender.
     
    Während Patterson seine Romane ganz auf die
Medien-Gewohnheiten seines Publikums zurechtschneidet,
scheint Treichel gar nicht an seine Leser zu denken. Doch
das tut er und erzielt – erstaunlicherweise – einen
ähnlichen Effekt wie Patterson: Ohne Unterbrechungen fließt
Treichels Text und reißt den Leser mit.
     
    Auch Patterson darf auf ein Fließen hoffen: Sein Stakkato
ist so extrem, dass es als bruchloser Fluss erscheint – 24
Bilder in der Sekunde, wie im Film.
    Zu viele kurze Absätze aber haben noch eine andere Wirkung:
Sie lassen den Roman flacher erscheinen. Was, je nach
Leserschaft, keinen Nachteil bedeuten muss.
     
    Als Faustregel könnte gelten: Je länger die Absätze, desto
tiefer lässt der Autor die Leser in seine Gedanken und die
seiner Figuren eintauchen.
     
    Auf seine Art erlaubt auch Treichel dem Leser kein
Verschnaufen. Hat der erst einmal mit dem Lesen angefangen,
wird er nicht mehr aufhören damit, bis er das Buch zu Ende
gelesen hat. So hofft der Autor.
    Vielleicht hofft er auch darauf, dass der Leser seinen
Roman als besonders tiefgründig wahrnimmt – siehe die
Faustregel oben. Doch wenn Sie Ihre Leser vergessen lassen,
dass es noch eine Oberfläche gibt, werden sie die Tiefe
irgendwann nicht mehr als Tiefe wahrnehmen, weil ihnen die
Relationen abhandengekommen sind.
     
    Ein Risiko gehen beide Autoren (oder deren Verlage) durch
die optische Erscheinung des Textes ein. Nicht wenige Leser
werden im Lauf der Lektüre die Form als störend empfinden –
belästigt von Patterson, überlastet von Treichel – und das
Buch vor seinem Ende entnervt zur Seite
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