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Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Watts
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Sie dreht sich zu Clarke um, und trotz der Verzerrung klingt ihre Stimme erschrocken und unsicher. »Er hätte mich umbringen können. Ich hätte sterben können!«
    Einen Moment lang scheint es, als seien Ballards Taucherhaut, die Augenkappen und ihre Selbstsicherheit verschwunden. Zum ersten Mal kann Clarke die Schwäche darunter erkennen, die wie ein zartes Netz aus haarfeinen Rissen stetig größer wird.
    Sie können auch einmal versagen, Ballard. Es ist nicht immer nur alles ein Kinderspiel. Das wissen Sie jetzt.
    Und es tut weh, nicht wahr?
    Tief in ihrem Innern spürt sie einen Hauch Mitgefühl. »Ist schon in Ordnung«, sagt sie. »Jeanette, alles ist in …«
    »Sie Idiotin!«, zischt Ballard. Sie starrt Clarke an wie eine bösartige, blinde alte Vettel. »Sie haben einfach nur zugeschaut! Ohne etwas zu tun!«
    Clarke spürt, wie sie wieder auf Sicherheitsabstand geht, gerade noch rechtzeitig. Das ist nicht einfach nur Wut, wird ihr klar. Nicht bloß die Hitze des Augenblicks . Sie mag mich nicht. Sie mag mich überhaupt nicht.
    Und dann, ein wenig überrascht, dass ihr das nicht schon früher aufgefallen ist:
    Sie hat mich noch nie gemocht .

Eine Nische
    Die Station Beebe schwebt an ihrer Verankerung über dem Meeresboden, ein Planet, grau wie Gusseisen, der am Äquator von einem Ring aus Scheinwerfern umgeben ist. Am Südpol besitzt er eine Luftschleuse für Taucher und am Nordpol eine Andockluke für U-Boote. Dazwischen befinden sich Stahlträger, Ankerleinen, Rohre, Kabel, Metallplatten und Lenie Clarke.
    Sie ist mit einer Routineüberprüfung der Hülle beschäftigt: eine Standardprozedur, die einmal pro Woche durchgeführt wird. Ballard ist im Innern der Station und testet ein paar Geräte in der Kommunikationszentrale. Streng genommen widerspricht dies den Sicherheitsbestimmungen, doch Clarke hat nichts dagegen einzuwenden. In den letzten Tagen sind sie zwar gut miteinander ausgekommen – gelegentlich ist Ballard sogar wieder in ihr altes kumpelhaftes Gehabe zurückverfallen –, doch je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto angespannter wird die Lage. Clarke weiß, dass es irgendwann krachen wird.
    Außerdem findet sie es nicht schlimm, hier draußen allein zu sein.
    Sie überprüft gerade eine Kabelschelle, als ein Drachenfisch ins Licht geschossen kommt. Er ist etwa zwei Meter lang und hungrig. Mit aufgerissenem Maul stürzt er sich auf den nächstgelegenen Scheinwerfer. Mehrere Zähne brechen ab, als sie auf das Kristallglas der Lampe treffen. Der Drachenfisch wirft sich herum, schlägt mit dem Schwanz gegen die Hülle und schwimmt davon, bis er in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen ist.
    Clarke beobachtet ihn fasziniert. Der Drachenfisch schwimmt einige Male hin und her und greift dann erneut an.
    Der Scheinwerfer hält dem Ansturm mühelos stand, während der Angreifer weitaus größeren Schaden nimmt. Wieder und wieder wirft sich der Fisch gegen die Lampe. Als er sich schließlich genug verausgabt hat, sinkt er zuckend zum schlammigen Meeresboden hinab.
    »Lenie? Geht es Ihnen gut?«
    Clarke spürt die Worte in ihrem Unterkiefer surren. Sie schaltet den Sender in ihrer Taucherhaut ein: »Alles in Ordnung.«
    »Ich habe dort draußen etwas gehört«, sagt Ballard. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass mit Ihnen …«
    »Alles in Ordnung«, versichert Clarke. »Es war nur ein Fisch.«
    »Die kapieren’s einfach nicht, was?«
    »Nein, wohl nicht. Bis nachher.«
    »Bis …«
    Clarke schaltet den Empfänger ab.
    Die armen dummen Fische . Wie viele Jahrtausende hat es gedauert, bis sie gelernt haben, dass Biolumineszenz Futter bedeutet? Wie lange wird die Station hier unten bleiben müssen, bis sie begreifen, dass elektrisches Licht nicht essbar ist?
    Wir könnten die Stirnlampen ausgeschaltet lassen. Vielleicht würden sie uns dann in Ruhe lassen …
    Sie blickt an Beebes Heiligenschein vorbei in die Schwärze dahinter. Die Dunkelheit tut beinahe weh in den Augen. Wie weit könnte sie ohne Licht und ohne Echolot in dieses flüssige Leichentuch hinausschwimmen und trotzdem noch den Weg zurückfinden?
    Clarke schaltet ihre Stirnlampe aus. Die Nacht rückt ein wenig näher, doch Beebes Lichter halten sie immer noch auf Abstand. Clarke dreht sich um, bis sie sich der Dunkelheit gegenübersieht. Wie eine Spinne hockt sie auf Beebes Hülle.
    Sie stößt sich ab.
    Die Dunkelheit umfängt sie. Sie schwimmt, ohne zurückzublicken, bis ihre Beine müde werden. Sie weiß nicht, wie weit sie
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