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Abbau Ost

Titel: Abbau Ost
Autoren: Olaf Baale
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für Hans-Werner Sinn »im Fördergebietsgesetz, in der Holländischen Krankheit und
     im Mezzogiorno-Problem«. Das Fördergebietsgesetz hätte zur massenhaften Fehlleitung von Investitionen und zu der heute im
     Beitrittsgebiet allerorten sichtbaren Vernichtung von Kapital geführt. Die Abschreibungsvergünstigungen, die eigentlich Investitionsanreize
     schaffen sollten, fielen so üppig aus, dass echte ökonomische Erträge eine eher untergeordnete Rolle spielten und sich Investitionen
     allein schon durch Steuervergünstigungen auszahlten. Für zahlreiche neu erbaute Büros und Wohngebäude fanden sich keine Mieter.
     Hans-Werner Sinn sprach von »einem bedauerlichen Politikfehler, der den politischen Entscheidungsträgern nicht hätte unterlaufen
     dürfen«.
    Die Holländische Krankheit (Dutch disease) geht zurück auf die holländischen Gasfunde, nach denen die kleine Nation ihre Wirtschaftskraft
     auf die Erschließung der Fundstätten konzentrierte. In der Folge wurde das verarbeitende Gewerbe stark vernachlässigt, Industrieexporte
     wurden durch Erdgasexporte verdrängt. »Zwar haben die fünf neuen Länder keinen Überfluss an natürlichen Rohstoffen«, doch
     »spielt es nämlich keine Rolle, ob die Zahlungen, die eine Region erhält, ein Geschenk der Natur oder ein Geschenk aus einer
     anderen Region sind«. Mit anderen Worten, die Ostdeutschen beuteten den üppig sprudelnden Quell westdeutscher Transferleistungen
     aus wie die Holländer seinerzeit ihre Erdgasvorkommen. Als Therapie für die Holländische Krankheit empfahl Hans-Werner Sinn
     »eine Senkung der West-Ost-Sozialtransfers«.
    Doch die wichtigste Ursache für mangelnde Wirtschaftserfolge |14| im Osten schien Hans-Werner Sinn das Mezzogiorno-Problem zu sein. Dieses Gleichnis bemüht die Wirtschaftsschwäche Süditaliens.
     Vom Schaft an abwärts bis zur Sohle, heißt es in der Studie, leide der Stiefel an den Folgen kollektiver Lohnverhandlungen.
     Die mächtigen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen des Nordens hätten das Lohnniveau für ganz Italien festgelegt,
     wodurch die Unternehmen im Süden ihren wichtigsten Standortvorteil verloren, nämlich billige Arbeitskräfte. Arbeitslosigkeit
     und Stagnation seien die Folgen gewesen, die jetzt durch Sozialtransfers vom Norden in den Süden abgemildert werden müssten.
     Die Parallelen zwischen dem Osten und Westen Deutschlands waren für Hans-Werner Sinn offensichtlich, denn »die westdeutschen
     Konkurrenten bestimmten die Arbeitsbedingungen und die Löhne im Osten«. Gegen das Mezzogiorno-Problem empfahl der Wissenschaftler
     »Lohnmäßigung« und eine »aktivierende Sozialhilfe«, bei der Erwerbstätige Sozialleistungen vom Staat nur noch als Zuschüsse
     zu Billigjobs erhalten sollten. Aktivierend insofern, dass Arbeit, wie schlecht bezahlt auch immer, die Voraussetzung für
     die Zahlung von Sozialhilfe wäre.
    Mit seinem »Kommentar zur Lage der neuen Länder« hatte Hans-Werner Sinn eine Duftmarke gesetzt, an deren Aura sich Deutschland
     erst gewöhnen musste. Selbst Wissenschaftler rümpften anfangs die Nase. Zwar hatte es auch vorher kritische Betrachtungen
     zum Einigungsprozess und zur wirtschaftlichen Entwicklung gegeben, aber nie zuvor hatte ein Beamter aus der sozialen Hängematte
     des Staates derart unverblümt über wirtschaftsliberales Gedankengut sinniert. Hans-Werner Sinn leugnete über weite Strecken
     seines Aufsatzes nicht nur, dass der Westen das Dilemma in den neuen Ländern erst verursacht hatte, er betrachtete sie auch
     als losgelöstes, eigenständiges Territorium, zog sozusagen noch einmal die innerdeutsche Grenze und machte, in seiner isolierten
     Betrachtungsweise, die ehemalige DDR für die anhaltende Wirtschaftsschwäche der Bundesrepublik verantwortlich.
    Anfangs sprang kaum jemand auf diese Diskussionsplattform. Im Oktober 2000 gab es noch Hoffnungen, Deutschland könne sich |15| am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Tatsächlich dauerte es nach der Veröffentlichung des Aufsatzes noch mehr als drei
     Jahre, ehe die Stimmung umschlug und die Thesen des Münchener Institutsdirektors in aller Munde waren. Und dann schließlich,
     im Frühjahr 2004, entluden sich die lange aufgestauten Ressentiments. Der deutsche Osten, das Versuchsterrain einer misslungenen
     Integration, wurde abgeschrieben. Plötzlich forderte der westliche vom östlichen Landesteil mehr Eigenständigkeit, als die
     Bundesrepublik Deutschland der Deutschen Demokratischen
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