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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben
Autoren: Karl May
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gerecht erscheinen zu können, die Vielbesitzenden, denen arme Leute nötig sind, um ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche Arbeiter haben müssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen Dingen die Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die Vertrauenden, die Ehrlichen unentbehrlich sind, um von ihnen ausgebeutet zu werden. Was würde aus allen diesen Bevorzugten werden, wenn es die andern nicht mehr gäbe? Darum ist es jedermann auf das allerstrengste verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schärfsten Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Land der Nächstenliebe und der Humanität, nach Dschinnistan zu flüchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht durch. Er wird ergriffen und nach der ‚Geisterschmiede‘ geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden, bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend in das verhaßte Joch zurückzukehren.
    Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Märdistan, jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle und beschwerliche Weg nach oben geht. Märd ist ein persisches Wort; es bedeutet ‚Mann‘. Märdistan ist das Zwischenland, in welches sich nur ‚Männer‘ wagen dürfen; jeder andere geht unbedingt zugrunde. Der gefährlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten Gebietes ist der ‚Wald von Kulub‘. Kulub ist ein arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen Wortes ‚Herz‘. Also in den Tiefen des Herzens lauern die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will. Und mitten in jenem Wald von Kulub ist jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in ‚Babel und Bibel‘, Seite 78, heißt:
    „Zu Märdistan, im Walde von Kulub
Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.
Da schmieden Geister?“
„Nein, man schmiedet sie!
Der Sturm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,
Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.
Der Haß wirft sich in grimmiger Lust auf sie.
Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.
Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.
Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug
Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.
Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.
Man stößt dich in den Brand; die Bälge knarren.
Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,
Und alles, was du hast und was du bist,
Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,
Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,
Gedanken und Gefühle, alles, alles
Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert
Bis in die weiße Glut –“
„Allah, Allah!“
„Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht!
Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,
Wird weggeworfen in den Brack und Plunder
Und muß dann wieder eingeschmolzen werden.
Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,
Die in der Faust der Parakleten funkelt.
Sei also still!
Man reißt dich aus dem Feuer –
Man wirft dich auf den Amboß – hält dich fest.
Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.
Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied,
der Meister.
Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu.
Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer –
Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,
Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.
Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten.
Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,
Und dennoch mußt du wieder in das Feuer –
Und wieder – immer wieder, bis der Schmied
Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual
Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.
Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.
Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg
Was noch –“
„Halt ein! Es ist genug!“
„Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,
Der schraubt sich tief –“
„Sei still! Um Gottes willen!“
usw. – usw.
    So also sieht es in Märdistan aus, und so also geht es im Innern der ‚Geisterschmiede von Kulub‘ zu! Jeder Bewohner des Sterns Sitara kennt die Sage, daß die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen, vom Himmel herniederkommen. Engel und Teufel warten auf sie. Die Seele, welche das Glück hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt, wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die
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