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711 N. Chr. - Muslime in Europa

711 N. Chr. - Muslime in Europa

Titel: 711 N. Chr. - Muslime in Europa
Autoren: Kay Peter Jankrift
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Araber die Iberische Halbinsel nicht erobert.
    Über anderes lässt sich hingegen nur spekulieren. Nehmen wir zunächst die Nachbarn der Iberischen Halbinsel in den Blick, die Franken. Der Merowingerkönig Chlodwig betrieb eine aggressive Expansionspolitik, der schon zu Beginn des 6. Jahrhunderts das tolosanische Westgotenreich zum Opfer gefallen war. Es wäre wohl nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Franken versucht hätten, das Land westlich der Pyrenäen ihrem Reich einzuverleiben. Immerhin unternahm Karl der Große – wenn auch unter anderen Rahmenbedingungen – im Jahre 778 einen Feldzug auf die Iberische Halbinsel. Verlief dieses Unternehmen auch anders als geplant, eroberte der Frankenherrscher 801 Barcelona und richtete jenseits der Pyrenäen die Spanische Mark mit einer Reihe von Grafschaften als Pufferzone zwischen der islamischen Welt und dem fränkischen Großreich ein. Die bedeutendste dieser Grafschaften, |121| jene von Barcelona, wurde in der Folgezeit ein wichtiger Ausgangspunkt für den weiteren Verlauf der Reconquista in Katalonien. Die langjährigen Kriege gegen die Sachsen, die am Ende von den Franken unterworfen wurden, sprechen für die Entschlossenheit Karls, sein Reich zu vergrößern. Auch die Langobarden fielen der karolingischen Expansion 774 zum Opfer. Früher oder später wären wohl auch die Westgoten unter fränkischem Druck zusammengebrochen. In der Konsequenz hätten sich Kirchenstrukturen und religiöser Ritus anders entwickelt als bei den arabisierten Christen, den Mozarabern, besonders in Toledo unter muslimischer Herrschaft. Mit Blick auf den tatsächlichen Gang der Ereignisse wird deutlich, welch maßgeblichen Anteil die französische Geistlichkeit – spätestens seit der Rückeroberung Toledos am Ende des 11. Jahrhunderts – an der Umgestaltung des kirchlichen Lebens hatte. Wäre das westgotische Reich tatsächlich auf die eine oder andere Weise im fränkischen Reich aufgegangen, mag auch darüber spekuliert werden, ob die katalanische Sprache je Bedeutung gewonnen hätte oder vom Französischen verdrängt worden wäre. Für den Fall, dass sich ein eigenständiges Westgotenreich dauerhaft behauptet hätte, ist angesichts der strikten antijüdischen Gesetzgebung davon auszugehen, dass es irgendwann keine oder zumindest keine nennenswerte jüdische Gemeinschaft mehr auf der Iberischen Halbinsel gegeben hätte.
    Ohne die Jahrhunderte währende arabisch-berberische Herrschaft über weite Teile der Iberischen Halbinsel wäre der Transfer orientalischen Wissens in das christliche Abendland entweder anders verlaufen oder hätte mit einiger Verzögerung eingesetzt. Beide Möglichkeiten bedeuten in der Konsequenz, dass sich die Wissenschaften im mittelalterlichen Abendland anders entwickelt hätten. Immerhin gelangten Werke wie die medizinischen Schriften des Ibn Sina (Avicenna, um 980–1037), der bedeutende chirurgische Traktat des az-Zahrawi (Abulkasis, 936–1013) oder die philosophischen Aristoteles-Kommentare des Ibn Rushd (Averroës, 1126–1198) in Übersetzungen von der Iberischen Halbinsel ins christliche Abendland. Gewiss, die Übertragung wissenschaftlicher Schriften aus dem Arabischen ins Lateinische nahm ihren Anfang in Süditalien: Constantinus Africanus (um 1020–1087), |122| der aus seiner nordafrikanischen Heimat fliehen musste und um 1075 an die Medizinschule von Salerno gelangte, übersetzte kurz vor dem Beginn der Kreuzzüge in den Vorderen Orient viele wichtige Schriften. Doch musste er diese auf mehreren Reisen durch die islamische Welt erst einmal mühsam zusammentragen. Trotz der bahnbrechenden Leistung fehlten ihm so grundlegende Bücher wie der »Qanun« des Ibn Sina. Dieser wurde erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts durch Gerhard von Cremona (1114– 1187) in Toledo übersetzt. Toledo und andere Städte der Iberischen Halbinsel besaßen riesige Bibliotheken. Die Werke mussten also nicht erst zusammengetragen werden, sondern waren vor Ort. Aus den bis heute erhaltenen mittelalterlichen Handschriften wissenschaftlicher Texte in Übersetzung können wir schließen, dass der Löwenanteil auf der Iberischen Halbinsel entstanden ist. Aus Italien wie auch aus den Kreuzfahrerstaaten flossen im Vergleich dazu bestenfalls dünne Rinnsaale. Das liegt nicht zuletzt an den institutionellen Strukturen wie den Rahmenbedingungen in den von den Christen zurückeroberten spanischen Städten. Durch das jahrhundertelange Nebeneinander waren die einheimischen Christen
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