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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Autoren: Karl May
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werde!“
    Er war ein guter, freundlicher und splendider Vater, aber vor allen Dingen Edelmann. Die Standesrücksicht stand ihm wenigstens ebenso hoch wie die Sorge um das Wohl der Seinigen. Alma war wohl zwanzig Jahre lang sein einziges Kind gewesen, und er hatte ihr während dieser Zeit möglichst jeden Wunsch erfüllt. Nun aber verlangte er auch, daß sie sich heute seiner Verordnung füge. Er liebte sie, aber Robert, das nachgeborene Söhnchen, stand als Stammhalter seiner Sorge dennoch näher als sie. Darum befand sich das Kinderzimmer in unmittelbarer Nähe seines eigenen Kabinetts, und darum nahm er jetzt den Gehorsam seiner Tochter als etwas ganz Selbstverständliches an. Er sprach noch einen kurzen, nicht mehr als freundlichen Gruß aus und entfernte sich dann.
    Alma blieb allein zurück. Sie brauchte sich nicht mehr zu beherrschen. Der Ausdruck kalter Gleichgültigkeit wich aus ihrem Gesicht, und ihre Züge sprachen nun unverhohlen den Schreck aus, welcher sie bei der Eröffnung des Vaters ergriffen hatte.
    „Hellenbachs Braut!“ flüsterte sie, indem sie sich leise schüttelte. „Und das so ganz plötzlich, so unvorbereitet! Man hat es nicht einmal für nötig befunden, es mich während dieser langen Zeit wissen zu lassen! Man hat über mich verfügt so eigenmächtig, wie man über die Besitzveränderung eines Pferdes bestimmt. Soll ich mich fügen? Kann ich mich fügen? Kann ich mit gutem Gewissen die Frau eines Mannes werden, dessen Glück mir nicht mehr am Herzen liegt, wie dasjenige eines jeden anderen Menschen?“
    Sie trat an den Tisch und öffnete ein Album. Unter den darin befindlichen Fotografien befand sich auch diejenige Hellenbachs. Sie betrachtete dieselbe.
    „Nicht schön und nicht häßlich, nicht einmal interessant. Er ist ein Offizier gewöhnlicher Begabung, der seine Pflicht tut und in dreißig Jahren sich als Oberst pensionieren lassen wird. An diese unbefriedigende Existenz soll ich gefesselt sein! Was aber kann ich dagegen tun? Oh, Mutter, Mutter, lebtest du noch! An deinem Herzen würde ich nicht umsonst nach Rat und Trost verlangen. Diese kalte Selbstverständlichkeit des Vaters ist weit schlimmer, als wenn er hart und grausam wäre. Ich habe einen Vater, und dennoch bin ich einsam. Mein Herz ist ohne Schutz und Fürsprecher, und gleichwohl ist es ganz allein das Herz, welches über Glück und Unglück zu bestimmen hat.“
    Ihr feucht gewordenes Auge war auf das Album gerichtet, in welchem ihre Hand planlos weiterblätterte. Da plötzlich belebte sich ihr Blick. Sie hatte ein Bild aufgeschlagen, welches wie eine stumme und doch beredte Antwort auf ihre Klage ihr entgegenblickte. Es war die Fotografie eines Jünglings mit schönen, hochinteressanten, geistreichen Zügen. Seine großen, dunklen Augen sprachen ebensowohl von einer tief empfindenden Seele wie von einer eigenartig ausgeprägten und hoch ausgebildeten Intelligenz. Das Auge des Beschauers war gezwungen, bei diesem Kopf zu verweilen.
    „Gustav!“ sagte sie. „Bruder Gustav! Welch ein ganz, ganz anderes ist dieses Porträt! Er, der arme Försterssohn, hat ganz die Prärogative einer fürstlichen Abstammung.“
    Je länger ihr Auge auf dem Bild verweilte, desto inniger und liebevoller wurde der Blick des schönen Mädchens.
    „Wenn er Hellenbach wäre!“ flüsterte sie.
    Sie blickte schnell um sich, als ob sie befürchtete, von jemand gehört worden zu sein. Sie hatte da einen Gedanken ausgesprochen, welcher zwar als leise, unbestimmte Ahnung in ihrem Herzen gelegen hatte, aber niemals zum greifbaren Ausdruck gekommen war. Und fortgerissen von dieser augenblicklichen Empfindung zog sie das Album empor und drückte einen Kuß auf die Fotografie.
    „Er kommt; er kommt ja! Bei ihm werde ich den besten Rat erlangen. Hier aber ist es mir zu eng; hier wird's mir bange; ich muß hinaus aus dem Zimmer!“
    Sie legte, als gelte es dem Ersticken zu entrinnen, in schneller Hast die Seidenrobe ab und griff zu einem anderen Gewand.
    Als die Zofe Ella vorhin durch den Wink des Barons aufgefordert worden war, das Zimmer zu verlassen, hatte sie geahnt, daß die Unterredung zwischen Vater und Tochter eine wichtige sein werde. Darum war sie auf den Gedanken gekommen, draußen zu lauschen, und – sie hatte alles gehört. Als sie bemerkte, daß der Baron gehen werde, hatte sie sich schleunigst entfernt. Jetzt kehrte sie zurück und beeilte sich, ihrer Herrin beim Umkleiden zu helfen.
    „Ich promeniere nach dem Tannenstein“, sagte
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