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302 - Wo der Wahnsinn regiert

302 - Wo der Wahnsinn regiert

Titel: 302 - Wo der Wahnsinn regiert
Autoren: Michelle Stern
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willst du, Tanako?«
    »Du hast gesagt, wenn es schlimmer wird, gehen wir zurück.« Die Stimme seines Bruders war bitter. »Unsere Leute sterben. Wir sind zu wenige für deinen großen Plan. Du verheizt sie an der Oberfläche auf dem Bau.«
    Masao lächelte milde. » Du wolltest den Bunker verlassen, Akuma, vergiss das nicht. Ich habe dir gesagt, es wird Opfer geben. Diese Welt ist uns feindlich gesinnt. Aber wir werden uns das Land abtrotzen, auf dem wir schon bald leben werden.«
    »Yun ist tot.« Auf der Stirn seines Bruders bildete sich eine steile Falte, die nicht zu seinem jugendlichen Gesicht passte. »Vor wenigen Stunden erlag er dem Fieber. Er war neben dir der Ranghöchste in dieser Enklave. Ist es wirklich ein Zufall, dass er starb?«
    Masao stand langsam aus seinem thronartigen Stuhl auf. Er sah seinen Bruder an. Seine Stimme war eisiger als der Winter. »Du unterstellst mir Mord? Mord an einem Kommandanten?«
    »Ich unterstelle dir, dass du seine Medikamente gegen Placebos ausgetauscht hast. Umgebracht haben ihn die Viren und Bakterien der Oberfläche, als er das Land für deine Baupläne vermessen hat und wegen der Materiallieferungen Kontakt mit den Barbaren aufnahm.«
    »Deine Fantasie geht mit dir durch, Bruder. Yun war schon länger krank. Sein Organismus war zu schwach. Deshalb ist er gestorben. Wie für unseren Vater war seine Zeit gekommen.«
    »Das glaube ich nicht.«
    Masao hob stolz das Kinn. »Dann obduziere ihn. Wenn dein Verdacht widerlegt wird, wirst du dich bei mir offiziell entschuldigen. Ich weiß, dass es dir schwerfällt, Opfer zu bringen für unseren großen Traum. Aber eines Tages wirst du mir dankbar sein. Ich bin dabei, ein Medikament zu entwickeln, das uns beschützen wird. Wir werden an der Oberfläche herrschen, in einem Schloss, wie es die Welt über fünfhundert Jahre lang nicht gesehen hat. Aus den entlegensten Bunkern Japans werden sie zu uns kommen, wenn sie erst davon erfahren, und selbst Sub-Tokio wird neidisch und sprachlos vor dem stehen, was wir erreicht haben.«
    Akumas Augen blitzten. »Ich lasse ihn obduzieren. Und ich werde dafür sorgen, dass wir wieder dauerhaft in den Bunker zurückkehren. Die Zeit für ein Leben unter der Sonne ist noch nicht reif, und ich lasse nicht zu, dass du und dein ehrgeiziges Projekt uns alle töten.«
    Masao lächelte, als sein Bruder den Schutzraum verließ. Er würde bei Yuns Obduktion massenhaft Karzinome finden. Bald schon würde er vor ihm niederknien und ihn um Verzeihung bitten müssen, und ab da war es nur noch ein kleiner Schritt, seinen Willen endgültig zu brechen.
    ***
    Nipoo, Swaanstein, 2510
    Masao blickte vom Turm herab auf das karge Umland. Die Erde warf wenig Ertrag ab, und doch gab es Fortschritte. Es war ihm gelungen, eine kleine Gruppe Arbeiter aus dem Westen zu verpflichten, die vor seltsam deformierten Barbaren geflohen waren. Diese Leute arbeiteten für ihn, dafür gab er ihnen Medikamente, ein Dach über dem Kopf und eine Aufgabe.
    Von den Bunkermenschen lebten nur noch knapp fünfhundert. Früher hatte er sie »seine Leute« genannt. Inzwischen waren sie sein Volk und er ließ sich von ihnen »Rudowigu« nennen. Er hatte vor, sich selbst zum König zu krönen, sobald der Schlussstein gesetzt war.
    Das Schloss, das knapp sechzig Prozent der Originalgröße besaß, war so gut wie vollendet. Zwar waren nicht alle Gebäudeteile exakt nachgebaut, aber das spielte keine Rolle. Sie hatten ihre Aufgabe so gut gelöst, wie es ihre Kraft und das Material, das ihnen zur Verfügung stand, zuließen.
    Sein Blick fiel auf den ummauerten Friedhof, auf dem viele Mahnsteine in den grauen Himmel ragten. Unter ihnen ruhten die Urnen, und so mancher Knochen war im Abschiedsritual nach der Verbrennung auch durch seine Hände gewandert.
    Es hatte zahlreiche Opfer gegeben, doch ihn hatte es nicht getroffen. War nicht allein das ein Zeichen des Schicksals? Wer strebsam war und sein Geschick selbst in die Hand nahm, der konnte Großes erreichen. Schon Ludwig von Bavaria hatte das gewusst und mit seinem Schloss Neuschwanstein einen Gegenentwurf der Realität geschaffen.
    Und was brauchten die Menschen in dieser postapokalyptischen Zeit mehr als ein Gegenbild zu all dem Elend der Wirklichkeit? Die weißgekalkten Steine seines Schlosses waren ein Symbol für einen Traum, den er niemals aufgeben würde. Er würde eine Heimstätte der Medizin, des Wissens und der Kultur erschaffen. Er würde einige der jungen Frauen zu Geishas ausbilden
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