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30 - Auf fremden Pfaden

30 - Auf fremden Pfaden

Titel: 30 - Auf fremden Pfaden
Autoren: Karl May
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uns drin bei der Jury den Prozeß macht. Wir wollen fort von hier! Wir wollen noch einmal verhört sein!“
    „Wollt ihr den Raubmord eingestehen?“
    „Nein, und abermals nein! Wir sind unschuldig!“
    Da winkte Winnetou mit der Hand Schweigen und sagte in seiner ruhigen, eindringlichen Weise:
    „Hier steht Winnetou, der Häuptling der Apachen, und hier steht sein Freund und Bruder Old Shatterhand, dem noch nie ein Feind hat widerstehen können. Ich habe noch kein Wort gesprochen, nun aber werde ich sagen, was geschehen soll. Man wird uns jetzt einriegeln und dann den Schuppen umstellen, daß die Mörder nicht aus Angst durch die Holzwände brechen. Hierauf werden trotz der Dunkelheit unsere Messer in die Gurgeln der Missetäter fahren, denn unsere Augen sind gewöhnt, die Finsternis zu durchdringen. Wir sind wie die Schlangen, die man nicht hört, wenn sie gekrochen kommen. Es sind heute genug unnütze Worte gesprochen worden; und nun sollen die Taten folgen, und man soll nichts weiter hören als die Todesschreie der Mörder, welche unter unseren Messern ebenso fallen werden, wie sie mit den ihrigen die Burnings niedergestochen haben! Es mag beginnen!“
    Die Art und Weise, wie Winnetou sprach, machte einen geradezu niederschmetternden Eindruck auf die Schurken. Sie erhoben in zitterndem Ton Einspruch, vergeblich; sie baten, sie drohten, sie fluchten, ebenso vergeblich. Noch als der Fackelträger den Raum verließ, ballten sie die Fäuste und brüllten vom wahnsinnig machen und blind werden. Erst als die Tür verriegelt worden war, schwiegen sie und vermieden von nun an jedes, auch das geringste Geräusch, um uns nicht auf die Stelle aufmerksam zu machen, an welcher sie sich befanden.
    Was uns betraf, so wollten wir sie nicht erstechen, sondern durch die Todesangst zum Geständnis bringen. Wir waren überzeugt, daß sie sich hüten würden, uns anzugreifen; dennoch schafften wir unsere Decken leise aus der einen in die andere vordere Ecke und legten uns mit ausgestreckten Beinen so nieder, daß jeder, der sich näherte, nicht an uns kommen konnte, ohne einen unserer Füße zu berühren. Dann warteten wir, die Messer in den Händen und jeden Augenblick zur sofortigen Gegenwehr bereit.
    Es fehlte uns natürlich jedes Maß, die Zeit genau zu bestimmen; aber ich rechnete eine halbe Stunde und noch eine, ohne daß unsere durch die Übung geschärften Ohren ein Geräusch entdeckten. Da wurde es ganz plötzlich außerordentlich kalt, so kalt, daß es durch Mark und Bein zu gehen schien, und kurz darauf begann ein hohles, dumpfes Brausen pausenlos über das Dach zu gehen. Nur wenige Minuten später hörten wir draußen rufen:
    „Seht ihr die Sankt-Elmsfeuer an allen Spitzen und Ecken? Der Blizzard kommt, der Blizzard! Rettet euch in die Blockhäuser, schnell, schnell!“
    Blizzard heißt der furchtbare Schneesturm im Westen des Mississippi, welcher stets aus Norden kommt, sich durch ein ganz plötzliches und tiefes Sinken der Temperatur anzeigt und zwar ziemlich schnell vorübergeht, aber in Beziehung auf seine Gefährlichkeit der entsetzlichen Wjuga Hochasiens nicht nachsteht. Er wird häufig von elektrischen Erscheinungen begleitet, und trotz der Winterzeit sind Blitz und Donnerschläge keine Seltenheit. Wehe dem, den der Blizzard im Freien oder in einem nicht fest gefügten Bauwerk überrascht! Er reißt alles nieder oder mit sich fort und bedeckt jeden erhabenen Gegenstand mit dem Leichentuch meterhohen Schnees.
    Das Rufen draußen war verschollen; die Wächter hatten sich in die Blockhütten geflüchtet. Da kam der erste Windstoß, welcher alles von der Erde fegen, alles aus den Fugen reißen zu wollen schien. Und nun heulte, kreischte, zischte, stöhnte und brüllte es über uns dahin wie eine entfesselte, unsichtbare Flut, die keine Ufer und auch kein Erbarmen kennt. Der Donner rollte; Blitze zuckten. Das Innere des Schuppens füllte sich mit einem feinen aber dichten Schneemehl, welches der Orkan zu den Lücken hereintrieb. Wir zitterten vor Frost; wir klapperten mit den Zähnen, obgleich wir die Decken eng um uns geschlagen hatten. Die Erde bebte; der Schuppen wankte. Das dauerte wohl über eine halbe Stunde; dann traten im Wüten der Elemente kurze Zwischenräume ein, in denen wir Grinder und Slack ächzen, stöhnen und röcheln hörten; vielleicht nur aus Angst? Das konnten wir jetzt nicht wissen. Dann nahm der Orkan seine Kraft zu einem letzten, gewaltigen Stoß zusammen. Der Boden zitterte unter uns; der
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