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2369 - Quartier Lemurica

Titel: 2369 - Quartier Lemurica
Autoren: Unbekannt
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einer Entfernung von vielleicht 40 Metern, blickte, durch das Nebeltreiben nur schlecht erkennbar, eine verhärmt wirkende Frau aus ihrem Fenster.
    Ihre Augen waren weit aufgerissen.
    Vielleicht hatte sie geweint, vielleicht spielte sie mit dem Gedanken, sich in die Tiefe zu stürzen.
    Spontan winkte ihr Elfia zu und zeigte ein scheues Lächeln. Vielleicht fühlt sie sich nun ein wenig wohler?, dachte sie.
    Die Frau wirkte erschrocken. Ruckartig zog sie den Vorhang zu und verschwand vom Fenster. Nein. Dies war keine Welt, die Freundlichkeit und Nachbarschaftshilfe duldete.
    Elfia nahm einen tiefen Schluck vom Scharfen. Dann aktivierte sie die „Zeig Mir Glück - Gib Mir Glück"-Schaltung des Trivids und suchte jenen Pfad, der sie zur Verlosung brachte. „Willkommen!", sagte die synthetische Stimme des Alleshelfer-Priesters. „Du willst dein Kind für die Verlosung registrieren lassen?"
    Elfia bestätigte mit einem Fingerdruck. „Du hast dein Glück bereits dreimal bemüht, Bürgerin Elfia Jin aus dem Bezirk Vierundzwanzigzwölf der Stadt Adur Bravuna", fuhr der Alleshelfer mit ruckelndem Gesicht fort. „Wir freuen uns, dass du deinen Pflichten als Mutter so bereitwillig nachkommst, und gratulieren zur vierten Schwangerschaft. - Wusstest du, dass du mit der Geburt eines fünften Kindes in den Genuss von unzähligen Verbesserungen kommst, die den Lebensstandard deiner Familie zweifelsohne erhöhen werden? Cyclo-Windeln für ein halbes Jahr gratis, eine Erhöhung der Ernährungsbonquote um drei Prozent, eine Grundausstattung der Bekleidung für die jüngsten zwei Kinder, eine Gesundenuntersuchung mit fünfzigprozentigem Preisnachlass ..."
    Elfia überging die Werbebotschaft des Alleshelfers. Ein neues Menü öffnete sich; der virtuelle Priester wirkte nun ernsthafter und sprach mit tragender Stimme. „Die Priesterschaft ist auf Nachwuchs der guten und braven raphanischen Bürger angewiesen. Mit einem weiteren Fingerdruck bestätigst du, dass du dein Kind für die Verlosung einer der einhundertdreißig freien Plätze anmeldest. - Danke schön, Bürgerin Elfia Jin. Im Fall des Gewinns wird sich die Priesterschaft termingerecht bei dir melden. Wir wünschen dir viel Glück."
    Das Gesicht des Alleshelfers gefror in einem Lächeln. Eine weitere Stimme aus dem Hintergrund sagte: „Derzeit sind neunsiebendreidreiachtfünfachtzwei zukünftige Bürger für die Verlosung angemeldet ..."
    Das Bild des Alleshelfers erlosch und wurde übergangslos von der Einschaltung eines beliebten Showstars abgelöst, der für ein neues Cyclo-Programm warb.
    Knapp einhundert Millionen Raphanen nahmen also derzeit an der Verlosung teil.
    Bis zum Beginn der Veranstaltung würden es ungefähr doppelt so viel werden. „Wann gibt's Essen?", brüllte Windor von nebenan. „Hab nicht mehr lange Zeit, muss bald wieder runter." Runter. Zu seinen Freunden. In die dunkelsten, ältesten Katakomben des Schattenreichs. Spielen, saufen, herumhuren. „Komm schon!", gab Elfia ebenso laut zur Antwort: Sie zog am Scharfen, blickte ein letztes Mal aus dem Fenster. Nach oben. „Ich möchte den Himmel sehen", sagte sie und unterdrückte ein Schluchzen. „Ein einziges Mal in meinem Leben."
     
    *
     
    Es war ein hässliches und unruhiges Kind.
    Es plärrte Tag und Nacht, nuckelte immer wieder an ihren schlaffen Brüsten, gönnte seiner Mutter keinen Moment Ruhe.
    Windor half ihr in den seltensten Fällen. Er habe „Geschäfte zu erledigen", sagte er stets, um sich den Regenschutz zu schnappen und fluchtartig einen der elend langsamen Käfigaufzüge in die unteren Stockwerke zu nehmen. Immerhin brachte er von Zeit zu Zeit ein wenig Geld und Lebensmittel vorbei, offenbar als Ausdruck seines schlechten Gewissens. Elfia wollte gar nicht wissen, wie er an das Bare herangekommen war. Es interessierte sie nicht. Sie konnte die notwendigsten Ausgaben decken,. dem Miethai ausnahmsweise eine Rate pünktlich bezahlen und ihrem Kind sogar ein wenig - angeblich - Non-Cyclo-Nahrung beschaffen.
    Wenn er bloß nicht so viel geschrien hätte, wenn er nicht dauernd so hungrig gewesen wäre! „Wie soll er heißen?", fragte sie Windor eines Tages, bevor er die gemeinsame - Wohnung verließ. „Lass dir was einfallen", gab ihr Mann zur Antwort. „Ein Name ist so gut wie der andere." Er griff ihr unter den zerschlissenen Rock, zwischen die Schenkel. „Kannst du schon wieder ...?"
    „Es wird noch eine Zeit lang dauern", wich Elfia aus. Der Gedanke an Sex widerte sie an. Auch
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