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235 - Auf dem sechsten Kontinent

235 - Auf dem sechsten Kontinent

Titel: 235 - Auf dem sechsten Kontinent
Autoren: Michael M. Thurner
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angefangen bis hoch zum Projektleiter, vom Jüngsten bis zum Ältesten. Aber sie hatte ihre Wahl mit Bedacht getroffen. Einen Kerl, den man achtete und der wie Wachs in ihren Händen war. »Mach dir bloß nicht so viele Gedanken«, sagte sie und streichelte Pierre übers Gesicht, drückte ihn näher an ihren Busen. »Es läuft doch ganz gut so, wie es ist – oder? Ich werde dafür sorgen, dass wir ein schönes Leben führen, dass es uns gut geht. Besser als allen anderen Domländern. Halte dich nur an mich und vertraue mir. Ich kümmere mich um dich…«
    Pierre vergaß seine Probleme und seine Sorgen. Nanette gab sich ihm hin, belohnte ihn für sein Vergessen. So, wie sie es immer tat.
    Der Marsch durch die sich verändernde Eislandschaft dauerte mehr als vier Wochen. Zwei Spähtrupps wurden von plötzlich aufbrechenden Gletscherspalten verschluckt, eine Frau der Nachhut wurde von einem Untier zerrissen, ein australisches Pärchen erfror während der Nachtruhe im Zelt, weil die Heizaggregate ausfielen.
    Nanette fühlte sich niemals in Gefahr. Der Franke blieb stets in ihrer Nähe. Trotz seines ungeschlachten Aussehens besaß er ausgezeichnete Instinkte. Sie ging nur dorthin, wo er zuerst seine Schritte hingelenkt hatte, und sie vertraute seinem Spürsinn mehr als jenem der Anführer rings um Davide.
    Am Ende des zweiunddreißigsten Tages erreichten sie ihr geplantes Zwischenziel: Am Ende eines flach abfallenden Eishanges schaukelten mehrere Boote in stürmischem Wasser, abseits einer breiten Gletscherzunge. Die Station der Australier, Casey, war unweit von hier im Eis verankert gewesen. Ihre gesamten Habseligkeiten waren nunmehr in den Schiffen vertäut; ebenso Teile der russischen Rohstoffvorräte, die eine Vorhut bereits vor Wochen hierher verbracht hatte.
    Fast im Minutentakt rutschten Eisbrocken ins Meer. Das knirschende Geräusch aneinander reibenden Eises wollte und wollte nicht enden, und es wurde nur noch von den Aufprallgeräuschen jener Teile übertroffen, die aus mehreren hundert Metern Höhe ins Wasser platschten.
    »Ich habe Angst!«, rief Nanette und schmiegte sich an den Franken. Sie reichte ihm gerade bis zur Brust. »In diesen schaukelnden kleinen Booten kommen wir niemals lebend an unser Ziel.«
    »Ich passe auf«, sagte der Riese unbeholfen. »Niemand wird dir etwas antun.«
    »Du bist so nett zu mir, so nett…«
    Pierre, der mithalf, die Seile für den Abstieg zu den Schiffen zu vertäuen, drehte sich plötzlich um. In seinen Augen glitzerte Eifersucht – doch nicht lange. Sie hatte ihm gezeigt, wo sein Platz war. Solange er tat, was sie wollte, fand er einen Platz in ihrem Nachtlager. Er zuckte mit den Achseln und kümmerte sich wieder um seine Arbeit.
    So ist es brav, dachte Nanette.
    Es dauerte zwei weitere Tage, bis die Ausrüstung in den Booten verstaut war und sie an Bord gehen konnten. Der Gletscher zog sich indes mit beängstigender Geschwindigkeit ins Landesinnere zurück, während übers Meer neue Eismassen herantrieben. Kühle Meeresströmungen trafen auf Schmelzeis, die Witterungen spielten verrückt.
    Hatten die Flüchtlinge gehofft, in einen einfacheren Abschnitt ihrer langen Reise zu treten, so sahen sie sich getäuscht. Was wie eine Schmelzperiode begonnen hatte, wirkte nun wie ein Atemholen; wie ein Anlauf zu neuem Eiswachstum, das vom Ozean her immer neue Schübe an Material gegen das Festland führte. Der Wasserspiegel stieg in rasantem Tempo an, fiel dann wieder. Die klimatischen Umwälzungen, vor denen Davide immer gewarnt hatte, waren in vollem Gange.
    Nanette erhielt das beste Zimmer an Bord des schönsten Schiffes zugeteilt. Der Franke sorgte dafür, dass ihr so viel Komfort wie möglich zugestanden wurde.
    Die Männer achteten, respektierten – und fürchteten ihn. Er arbeitete für zwei, und er kannte keine Rast. Selten einmal sah man ihn für wenige Stunden ruhen, bevor er weitermalochte. Nichts schien ihn erschüttern zu können. Selbst während des Angriffs einer Horde riesiger Königspinguine, die ihn mit ihrer Masse schier unter sich begruben, blieb er ruhig. Er stand da, gab irgendwelche merkwürdigen Laute von sich und tötete einen Pinguin nach dem anderen. Inmitten eines Bergs zuckender Leiber tat er sein schreckliches Werk, schleuderte schwarzweiße Körper von sich, verbiss sich in ihren Hälsen, riss ihnen die Herzen aus den zuckenden Leibern.
    Aus vielen Wunden blutend, beendete er sein grausiges Werk. Nachdem der letzte Pinguin seiner furchtbaren
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