Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
219 - Kaiserdämmerung

219 - Kaiserdämmerung

Titel: 219 - Kaiserdämmerung
Autoren: Mia Zorn
Vom Netzwerk:
brummte der Eremit. Er reichte Victorius seine knochige Hand und half ihm auf die Beine. »Du solltest auf deine Deckung achten, Söhnchen. Besonders, wenn dein Hitzkopf sich zeigt.« Damit kehrte er dem Prinzen den Rücken und ging gemächlich zur Hütte.
    Victorius fehlten die Worte. Lange stand er da und kämpfte mit seinem Zorn. Bereute, sein Geheimnis preisgegeben zu haben. Er fühlte sich gedemütigt. Gleichzeitig war er erschrocken über die Heftigkeit seiner Gefühle. Unter dem Vorwand, Feuerholz sammeln zu wollen, zog er sich in den Wald zurück. Mit jedem Schritt tiefer in den Dschungel hinein veränderte sich das Objekt seines Zorns: Vor seinem inneren Auge verschwand die Gestalt Members und machte Kaiser Pilatre de Rozier Platz.
    »Warum hast du mich nicht weggeschickt?« Victorius hieb seine Machete in das Dickicht. »Du hast mich behalten, um dich an mir zu rächen! Hat es dir nicht gereicht, meinen Vater zu töten?« Brüllend tobte er durch den Dschungel. Seine Klinge fuhr durch das Unterholz wie die Klauen einer angreifenden Wildkatze. Vermutlich hätte er den gesamten Wald gerodet, wenn ihn nicht irgendwann die Kraft verlassen hätte. Erschöpft ließ er sich auf einen Findling nieder und wehrte sich nicht mehr gegen die düsteren Erinnerungen, die ihm durch den Kopf spukten.
    Erst als es dunkel wurde, kehrte er zum Eremiten zurück. Bei dem Alten am Feuer saßen ein halbes Dutzend Männer und Frauen. Manches Gesicht kannte Victorius: Es waren Leute aus nahe gelegenen Dörfern. Ob sie gekommen waren, um Members seherische Gabe zu nutzen, oder einfach nur Kräuter oder Rat brauchten, vermochte der Prinz nicht zu sagen. Er jedenfalls wollte jetzt mit niemandem sprechen.
    Wie ein Dieb schlich er sich an ihnen vorbei ins Haus. In der Nacht träumte er: Wieder war ihm ein Verfolger auf den Fersen, und wieder schlug der Prinz verzweifelt gegen die verschlossene Tür. Diesmal wurde sie geöffnet. Aber er wagte nicht einzutreten: Kein Geringerer als der Kaiser stand breitbeinig im Tor. Seine kalten Augen ruhten auf Victorius. »Was willst du?«, fragte er mit strenger Stimme.
    Victorius versuchte zu antworten, aber die Worte blieben wie Stachelkraut in seiner Kehle hängen. Seine Glieder schienen festgewachsen und das Atmen fiel ihm schwer. In seinem Rücken näherte sich sein Verfolger. »Wehre dich, wie es sich für den Sohn eines Kaisers gehört!« Die Stimme seines Ziehvaters klang wie brechendes Glas. Dann wurde das Tor zugeschlagen. Victorius erwachte schweißgebadet.
    In den darauf folgenden Tagen ging er Member weiterhin aus dem Weg. Er ruderte mit dessen Boot auf den nahe gelegenen See oder strich durch den Wald. Je mehr er über sein Leben nachdachte, desto stärker empfand er das Chaos seiner Gefühle. Besonders die Sehnsucht nach einem Zuhause verwirrte ihn. Es waren nicht Wimereux oder seine Geschwister, nach denen er sich sehnte, sondern ein vages irgendwo ankommen.
    Nur bei den täglichen Stockkampfübungen wechselte er einige Worte mit Member. Konzentriert verfolgte er dessen Erklärungen zu verschiedenen Schrittfolgen und Stoßtechniken. Der Alte ließ ihn mit provokanten Fragen oder Aufforderungen in Ruhe. Allerdings gab er am Schluss ihrer Übungen Victorius immer eine seiner Weisheiten mit auf den Weg.
    Einmal holte er einen Stein vom Fenstersims der Hütte. »Den habe ich gestern vom See mitgebracht.« Lächelnd reichte er ihn Victorius. »Er ist da! Du siehst und du fühlst ihn! Dennoch gehört er nicht hierher. Er sollte am Strand liegen und nicht hier bei der Hütte sein. So verhält es sich mitunter mit den Gefühlen der Menschen: Sie sind da, gehören aber nicht zwingend zu Zeit und Ort, in denen sie erscheinen.« Aufmunternd zwinkerte er dem Prinzen zu. »Bring ihn zurück an den See, Söhnchen!«
    ***
    Mitte April 2524, Wimereux-à-l’Hauteur
    Graue Wolken wischten das Sonnenlicht von den spitzen Dächern der Gewächshäuser im kaiserlichen Park. Rönee kehrte dem Fenster im Ratszimmers den Rücken. Er fluchte innerlich: Die wöchentliche Berichterstattung zur Situation des Landes schien kein Ende nehmen zu wollen. Wie ein Lakai musste er sie stehend verbringen. Ihm taten die Beine weh. Außerdem langweilte er sich entsetzlich: monotone Berichte, Notizen, Aufgabenverteilung, Wie in den letzten vier Wochen, ging es auch heute um die Aufbauarbeiten und Unterstützung in den von Gruhseuche, Vulkanausbruch und Frakkenplage gebeutelten Gebieten Tansanias, die in der Kaiserstadt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher