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212 - Das Skelett (German Edition)

212 - Das Skelett (German Edition)

Titel: 212 - Das Skelett (German Edition)
Autoren: Thomas Graser
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Tagen hätte sie es in zwei bis drei Stunden durchgelesen. Schnell lesen hatte sie sich in all den Jahren ihres Berufslebens antrainiert. Bei diesem Werk brauchte sie kleine Unterbrechungen, Phasen der Ruhe, um überhaupt weiterlesen zu können. Aber Abbrechen ging einfach nicht, sie musste es bis zum bitteren Ende lesen. Einige Kapitel las sie mehrmals und fing schon an, ihre gewohnte Lektoratsarbeit zu verrichten. Viele Randnotizen zierten dieses Manuskript.
    Sie hatte schon kleine Korrekturen aufgeschrieben. Um ein authentisches Buch zu veröffentlichen, würde sie es im Großen und Ganzen so belassen. Nun kam die Realität zurück – was hatte sie getan? Eigentlich ja nichts Verbotenes. Wie würde ihr Chef, Herr Dreihorn, darauf reagieren? Sie hatte ja schon des Öfteren Manuskripte mit nach Hause genommen, er würde doch gar nicht böse reagieren. Sie musste es ihm vorlegen und über den Inhalt berichten, gleich, wenn sie das Verlagshaus betreten würde. Er war der Verantwortliche, bei ihr war das Paket mit dem Blattwerk doch nur zufällig gelandet. Es war allein seine Verantwortung, über diese Zeilen zu entscheiden, es war sein Verlag. Louise atmete durch, aber es ging ihr nicht besser. Sie hatte Angst. Wovor? Hatte der leidende Mörder, Dr. Dachsler, seine Ängste in ihren Kopf übertragen und eingepflanzt? Sie erhob sich vom Sofa und nahm die Fernbedienung vom Fernseher.
     
    Nun musste die Nachricht vom Freitod des Doktors doch schon über den Bildschirm flimmern.
    Sie suchte bei N-TV und über Videotext nach Nachrichten, es tauchte immer noch nichts auf. Louise wurde noch unruhiger .
    Sie hatte einen trockenen Mund, erst jetzt fiel ihr auf, dass sie schon mehrere Stunden nichts mehr getrunken hatte. Ihr Tee schmeckte bitter, ein ebensolcher bitterer Gedanke kam auf. Hatte er es doch nicht getan und im letzten Moment abgebrochen? Oder hatte ein Handlanger von diesem bösen Russen Dr. Dachsler doch noch daran gehindert und überwältigt? Oder wurde er von seinen angestellten Ärzten gerettet? Wie würde es dann weitergehen, das verrückte Leben des Schönheitschirurgen? Nein, Louise wollte nicht mehr darüber nachdenken. Es ging sie nichts an, das wäre dann Aufgabe der Polizei, ihm zu helfen oder ihn zu verhaften oder was auch immer. Sie konnte doch nicht wirklich helfen. Aufgewühlt, aber langsam ruhiger werdend zog sie ihre Kleidung aus und wunderte sich kopfschüttelnd über sich selbst. Louises morgendlichen Rituale setzten ein, nichts vom gewohnten Ablauf änderte sich. Sie duschte, zog sich frische Kleidung an, trank nur einen Tee und aß wie jeden Morgen nichts. Frühstücken wollte sie im Verlag, wie auch schon seit vielen Jahrzehnten.
    Nachdem sie ihre blutdrucksenkenden Tabletten eingenommen hatte, ging es ihr sichtlich besser. Im kleinen Flur ihrer Wohnung hing ein großer Spiegel, sie schaute in ihr Konterfei, ihr Gesicht war nicht mehr Dunkelrot.
    Mittlerweile fühlte sie schon fast ihre Gesichtsfarben, sie änderten sich je nach Stimmung von Blassrosa bis eben Dunkelrot.
    Frischen Mutes holte sie ihren Drahtesel aus dem Vorkeller und begab sich auf den Weg zum Verlagsgebäude. Den schmalen Karton mit dem brisanten Inhalt hatte sie wieder in ihrer Tasche verstaut und auf dem Gepäckträger festgeschnallt. Kurz nach acht Uhr war der Verkehr zunehmend stärker, aber für sie erträglich. Das Wetter war herrlich, ihre dicke Jacke hätte sie gar nicht benötigt.
     
    Jetzt fiel es ihr siedend heiß ein, sie hatte ihr Handy nicht mitgenommen und auch noch nicht wieder angestellt. Dann würde sie ihre Tochter vom Büro aus anrufen.
    Denn Babsy wollte täglich etwas von ihr hören, dass alles in Ordnung sei. Gestern Abend hatte Louise sich ja nicht mehr gemeldet. Sie ärgerte sich, denn Barbara hätte ja mal für sie den Namen des Doktors googe ln können, vielleicht waren dort schon Nachrichten seines Todes verbreitet. Jetzt gab sie ihrer Tochter recht, ein Internetanschluss müsse heute jeder haben.
    Ihr schlechtes Gewissen setzte wieder ein und eine unerklärliche, noch größere Angst schlich sich in ihre Gedanken ein. Wurde sie beschattet oder verfolgt, von irgendwelchen russischen Verbrechern?
    Das konnte doch gar nicht sein.
    »Spinnst du langsam?«, rief sie sich laut zu.
    Louis e riss sich aus ihren wirren Gedanken, zügig fuhr sie weiter. Kurz darauf bog sie in die Denninger Straße ein. Alles war wie jeden Tag. Louise sah schon das geliebte Verlagsgebäude aus dem Augenwinkel und einen
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